Genozid


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Interview mit Rudolph Rummel

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Übersetzte Texte:

a) Bücher:

Macht tötet, Kapitel 1

Tod durch Staat, Kapitel 1

Tod durch Staat, Kapitel 2

Leben retten, Kapitel 1

Leben retten, Kapitel 8

b) Artikel:

Genozid

Demokratische Friedensuhr

Demozid und Krieg ausmerzen

Demozid nach dem 2.Weltkrieg

 

 

Originaltitel des Artikels:
R.J. Rummel: Genocide

Anmerkung des Übersetzers: Die von Rummel 1994 genannten Demozid-Zahlen für das 20. Jahrhundert sind von ihm selbst im Jahre 2005 zweimal nach oben korrigiert worden: Erstens durch neue Erkenntnisse über die Terrorherrschaft von Mao Tsetung, vor allem auf der Basis der Mao-Biographie von Jung Chang, sowie zweitens durch eine Neubewertung des kolonialen Genozids vor allem in Belgisch-Kongo ergibt sich eine neue Gesamtzahl von 262 Millionen Demozid-Toten zwischen 1900 und 1999.

ZUSAMMENFASSUNG: 1. Einführung. 2. Was ist Genozid? 3. Rechtsprechung zum Verbrechen des Genozids. 4. Was ist der Ursprung des Begriffs? 5. Geschichte des Verbrechens Genozid 6. Genozid als soziologisches Konzept: a) die rechtliche Definition b) die gängige Definition c) die allgemeine Definition 7. Genozid in der Geschichte 8. Gründe und Bedingungen für Genozid: a) Staatliche Institutionen b) Kontext c) Motive d) Schauplätze 9. Bibliographie

1. EINLEITUNG

Genozid wird gemeinhin als eines der moralisch schlimmsten Verbrechen angesehen, das ein Staat (im Sinne jeder herrschenden Amtsgewalt, darunter auch die einer Guerillagruppe, eines Quasi-Staats, eines Sowjets, einer Terrororganisation oder einer Besatzungsbehörde) gegen seine Bürger oder von ihm kontrollierte Menschen begehen kann. Der Hauptgrund dafür ist das, was die Welt über den Holocaust erfuhr, also über den systematischen Versuch der deutschen Behörden während des Zweiten Weltkriegs, sämtliche Juden zu töten, egal wo man sie fand, die Juden also als Gruppe zu vernichten. Dieser Mord an 5 bis 6 Millionen Juden wurde zum paradigmatischen Fall des Genozids und ist die Grundlage für die Entstehung dieses Wortes. Als die Welt auch von anderen Genoziden erfuhr, gab es einen internationalen Versuch durch die Vereinten Nationen, Genozid zum internationalen Verbrechen zu erklären und die entsprechenden Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. So billigte und verabschiedete die UN im Jahre 1948 die Konvention zur Verhinderung und Bestrafung des Verbrechens des Genozids (UHCG), und in jüngster Zeit wurde die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) ratifiziert. Als Verbrechen definierte die UHCG Genozid als Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder zum Teil zu zerstören. Der ICC übernimmt diese Definition, arbeitet sie weiter aus, liefert eine breitere Gesetzesgrundlage und kann jede Person unabhängig von ihrem Status oder Rang anklagen. Beachtenswert ist die Tatsache, daß der ICC nun nicht nur Genozid abdeckt, sondern auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche abgesehen von Genozid auch staatlichen Mord, Ausrottungskampagnen, Versklavung, Deportation, Folter, Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, erzwungenes Verschwinden und Apartheid einschließt.

Genozid ist auch Gegenstand von Sozialwissenschaften und wissenschaftlichen Untersuchungen, doch seine rechtliche Definition macht eine empirische und historische Forschung nicht leicht. Aus diesem Grund gab es für die wissenschaftliche Forschung im wesentlichen zwei Definitionsarten für Genozid. Die eine ist die Definition von Genozid als die Absicht, Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit zu ermorden, selbst wenn diese politische oder wirtschaftlicher Art ist. Eine zweite Definition, die auch als Demozid bezeichnet werden kann, ist jedwede absichtliche staatliche Ermordung unbewaffneter oder hilfloser Menschen aus irgendeinem Grunde.

Nimmt man beide sozialwissenschaftlichen Definitionen als Grundlage, dann haben Staaten während des zwanzigsten Jahrhunderts wahrscheinlich rund 174 Millionen Menschen ermordet. Die meisten dieser Morde, vielleicht rund 110 Millionen, gehen auf das Konto kommunistischer Staaten, hauptsächlich der UdSSR unter Lenin und Stalin und ihrer Nachfolger (62 Millionen Ermordete) und China unter Mao Tse-Tung (35 Millionen). Einige andere totalitäre oder autoritäre Staaten sind ebenfalls im großen Ausmaß mitverantwortlich für diese Bilanz, vor allem Hitlers Deutschland (21 Millionen Ermordete) und Chiang Kai-Sheks nationalistische Regierung in China (ungefähr 10 Millionen). Zu anderen Staaten, die weniger Millionen Menschen ermordeten, gehören das Kambodscha der Roten Khmer, Japan, Nordkorea, Mexiko, Pakistan, Polen, Rußland, Türkei, Vietnam und Titos Jugoslawien.

Grundsätzlich ist Genozid das Produkt der Art von Regierung, die ein Land hat. Es gibt eine hohe Korrelation zwischen dem Grad der demokratischen Freiheit, den die Menschen genießen, und der Wahrscheinlichkeit, daß der Staat Demozid begehen wird. Moderne demokratische Staaten haben praktisch keinen inländischen Genozid begangen. Die Staaten, die den meisten Genozid begehen, sind totalitäre Staaten, während diejenigen, die weniger Genozid begingen, zum Teil oder völlig autoritär und diktatorisch waren.

Unabhängig von der Art des Staates, steigt die Wahrscheinlichkeit von Genozid, während der Staat in einen Krieg verstrickt ist, oder wenn er innerlich zerrissen ist, wie bei Revolution, Rebellion oder ausländischen Invasionen. Diese liefern den Deckmantel und den Vorwand für Genozid. Egal ob im Krieg oder im Frieden: Das Motiv für Genozid kann sein, daß man einer wahrgenommenen Bedrohung für den Staat oder dessen Politik begegnen will, daß man diejenigen, die man haßt oder verachtet, vernichten will, daß man die ideologische Transformation der Gesellschaft verfolgt, daß man die Gesellschaft reinigen oder einen wirtschaftlichen oder materiellen Gewinn erlangen will.

Nimmt man eine nichtdemokratische Gesellschaft, dann erfolgt inländischer Genozid in acht Stufen, welche sind: Die Klassifizierung der Menschen in verschiedene Kategorien, die Stigmatisierung der Menschen durch Benennung oder Charakterisierung, die Entmenschlichung der Mitglieder dieser Gruppe, das Organisieren des Mordes oder der Ausrottung von Mitgliedern dieser Gruppe, die Polarisierung der moralischen Distanz zwischen den Gruppen, das Vorbereiten einer Ausrottungskampagne, der eigentliche Genozid und nach dem Geschehen die Leugnung, daß ein Genozid durchgeführt wurde.

2. WAS IST GENOZID?

Genozid ist zuerst einmal ein internationales Verbrechen, für das Individuen, unabhängig von der Höhe ihres Amts, vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) angeklagt, einem Gerichtsverfahren unterzogen und bestraft werden können. Gemäß Artikel 6 des ICC-Statuts beinhaltet dieses Verbrechen “jede der folgenden Taten, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

a)      Tötung von Mitgliedern der Gruppe;

b)      Verursachung von schweren körperlichem und seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe;

c)      Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;

d)      Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;

e)      Gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.”

Es gibt zu diesen Statuten eine Reihe von anzumerkenden Dingen:



1. Der Täter muß nicht notwendigerweise ein Staat oder sein Militärapparat sein, sondern kann unter anderem auch eine internationale Organisation, wie etwa eine UNO-Friedenstruppe, die NATO, oder eine terroristische oder Guerilla-Organisation sein.

2. Unabhängig davon, unter welcher Behörde ein Genozid geschieht, so wird er doch formuliert, geplant und ausgeführt von Individuen, und es sind auch Individuen, die der ICC wegen des Verbrechens des Genozids belangen wird. Im Gegensatz zum Internationalen Gerichtshof, der nur im Falle von Disputen zwischen Staaten entscheidet, ist der ICC ein Strafgericht, das Individuen belangt, internationale Haftbefehle für deren Verhaftungen ausstellt, gegen sie verhandelt und sie bestraft. Dies wird in Artikel 27 explizit erläutert: “Dieses Statut gilt gleichermaßen für alle Personen, ohne jeden Unterschied nach amtlicher Eigenschaft. Insbesondere enthebt die amtliche Eigenschaft als Staats- oder Regierungschef, Mitglied einer Regierung oder eines Parlaments, gewählter Vertreter oder Amtsträger einer Regierung eine Person nicht der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach diesem Statut und stellt für sich genommen keinen Strafmilderungsgrund dar.”

3. Der Vorsatz des Täters ist entscheidend (Absicht, Ziel). Gemäß dem Bericht der Vorbereitungskommission für den Internationalen Strafgerichtshof (PCICC), kann der ICC solches folgern aus Tathandlungen, die “im Rahmen eines erkennbaren Musters ähnlicher Handlungen, das gegen die Gruppe gerichtet ist, begangen werden oder selbst die Gruppe zu zerstören geeignet sein” (Artikel 6a), was “Anfangshandlungen in einem entstehenden Muster” (Artikel 6 der Einleitung) mit einschließt.

4. Die Begrenzung von Genozid auf lediglich nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppen bezieht sich auf Gruppen, in die man hineingeboren wird. Diese können unabänderliche Gruppen genannt werden. Im Falle einer religiösen Gruppe kann man sich zwar aussuchen, ob man eine solche als Erwachsener verläßt, doch wird dies selten getan, und man kann dennoch mit der betreffenden religiösen Gruppe anhand physischer Charakteristika, wie etwa Juden, identifiziert werden. Das Verbrechen des Genozids ist nicht anwendbar auf die Absicht, politische, ideologische, ökonomische, militärische, berufliche oder andere Gruppen zu vernichten. So wäre der Massenmord an vielleicht einer Million oder mehr “kapitalistischer Abweichler”, “Rechtsabweichler” und Kontrarevolutionäre während der chinesischen Kulturrevolution (1966-69) kein Genozid. Auch nicht der systematische Mord an Zehntausenden von Kommunisten und Linken durch Todesschwadronen in Lateinamerika in den 60er bis 80er Jahren. Der oft angeführte Grund dafür, solche Gruppen auszuschließen, ist der, daß man die Wahl hat, sich solchen Gruppen anzuschließen, und daß die Art und Mitgliedschaft in solchen Gruppen nicht so klar ist wie für die unabänderlichen Gruppen.

5. In der Definition von Genozid, ist der Begriff “als solcher” wichtig. Er bedeutet, daß die definierte Gruppe durch Absicht explizit zur Zielscheibe der Vernichtung wird, und eine solche Vernichtung ist kein unabsichtsvolles Ergebnis, Nebenprodukt oder Nebeneffekt einer Absicht, die auf ein anderes Ziel hinausläuft, wie etwa Verteidigungsoperationen, um militärische Ziele während eines Kriegs oder einer Rebellion anzugreifen.

6. Auch das Wort “vernichten” ist kritisch. Die Handlungen, die mit dieser Absicht durchgeführt werden, sind oben in (a) bis (e) sorgfältig definiert. Sie schließen zum Beispiel Versuche aus, eine unabänderliche Gruppe aus einem Territorium zu beseitigen durch ethnische Säuberung (was ihre erzwungene oder gewaltsame Entfernung einschließt), oder die Zerstörung der Kultur einer Gruppe, wie zum Beispiel durch die erzwungene Erziehung ihrer Kinder in einer anderen Sprache und mit anderen Sitten. Während “Kultur” in den Artikeln des ICC-Statuts und des Berichts des PCICC unerwähnt bleibt, und im Laufe der Entwicklung der Genozid-Rechtssprechung durchaus eingeschlossen wird, würde “ethnische Säuberung” im Statut als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit erscheinen. Nach Artikel 7.1.d ist es ungesetzmäßig, eine Bevölkerung zu deportieren oder per Zwang umzusiedeln.

7. “Ganz oder zum Teil” bedeutet, daß es keine Untergrenze in Bezug auf die Anzahl der Menschen gibt, an denen diese Handlungen begangen werden können. Es ist Genozid, selbst wenn eine der Handlungen von (a) bis (e) an nur einer Person mit der beschriebenen Absicht vollzogen werden.

8. Man glaubt gemeinhin, daß Genozid den Mord an Mitgliedern einer unabänderlichen Gruppe bedeutet. Doch das ist nicht richtig. Die Handlungen (b) bis (e) verdeutlichen, daß Genozid auch die Absicht beinhaltet, eine Gruppe oder eine oder mehrere ihrer Mitglieder durch andere Mittel als Töten zu vernichten.

9- In Punkt (b) kann “schwerer körperlicher und seelischer Schaden” auch Handlungen wie Folter, Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Apartheid oder eine andere unmenschliche oder degradierende Behandlung beinhalten (PCICC, Fußnote 3). Daß diese unmenschlichen Handlungen neben anderen explizit im ICC-Statut enthalten sind, ist ein größerer Fortschritt in der Kriminalgesetzgebung zum Genozid.

10. In Punkt (c) können “Lebensbedingungen” auch den “vorsätzlichen Entzug von Ressourcen, die für das Überleben unabdinglich sind, wie etwa Nahrung oder medizinische Versorgung, oder die systematische Vertreibung von Zuhause” beinhalten. (PCICC, Absatz 4)

11. Der Begriff “gewaltsam” in Punkt (e) “beschränkt sich nicht auf physische Gewalt, sondern kann auch Gewaltandrohung beinhalten, wie sie etwa durch die Angst vor Gewalt, Nötigung, Inhaftierung, psychologischer Unterdrückung oder Machtmißbrauch verursacht wird, oder durch das Ausnutzen einer Zwang verursachenden Umgebung.” (PCICC, Absatz 5).

12. Schließlich muß angemerkt werden, daß es viele andere Verbrechen gibt, die nicht unter die Definition des Verbrechens des Genozids fallen, die aber ebenfalls Gegenstand der Verfolgung durch das ICC sind. In Artikel 7 gehören dazu systematischer Mord, die Vernichtung von Zivilisten, Versklavung, Folter, Vergewaltigung, erzwungene Schwangerschaft, politische Verfolgung und erzwungenes Verschwinden.

3. RECHTSPRECHUNG ZUM VERBRECHEN DES GENOZIDS

Im Jahre 1998 votierten 120 Länder für die Annahme des Vertrags zur Schaffung des ICC. Nachdem dessen Statut von 139 Staaten unterzeichnet und von 76 ratifiziert worden war, entstand der ICC formell am 1. Juli 2002 in Den Haag in den Niederlanden. Es ist ein permanentes Gericht, das von den Vereinten Nationen unabhängig ist und weltweit zuständig sein soll. In der Präambel des Statuts stimmten die Staatsparteien dem Statut zu, nämlich:

bekräftigend, daß die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, nicht unbestraft bleiben dürfen und daß ihre wirksame Verfolgung durch Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene und durch größere internationale Zusammenarbeit gewährleistet werden muß,...

entschlossen, der Straflosigkeit der Täter solcher Verbrecher ein Ende zu setzen und so zur Prävention solcher Verbrechen beizutragen,...

im Hinblick darauf, daß es die Pflicht eines jeden Staates ist, seine Strafgerichtsbarkeit über die für internationale Verbrechen Verantwortlichen auszuüben...”

entschlossen, um dieser Ziele willen und für das Wohl gegenwärtiger und zukünftiger Generationen einen unabhängigen permanenten Internationalen Gerichtshof im Zusammenhang mit dem System der Vereinten Nationen zu errichten, dem die Gerichtsbarkeit über die schwersten Verbrechen in Bezug auf die internationale Gemeinschaft als ganzes obliegt...“

Dies zeigt ein klares internationales Bestreben, daß das Verbrechen des Genozids nicht ungestraft bleiben darf, egal wo es passiert.

Wenn im Jahre 2003 die Organisation des ICC abgeschlossen sein wird, wird dieser achtzehn Richter und einen Ankläger umfassen, welche von den Staatsparteien für das Statut ausgewählt werden. Fälle können vor das Gericht durch Parteien, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder den Ankläger eingebracht werden. Der Ankläger kann keine eigene Untersuchung ohne die Zustimmung von zweien von drei Richtern des ICC-Gremiums vornehmen. Eine solche Untersuchung kann sich auf Informationen aus jeder zuverlässigen Quelle gründen, auch auf Individuen.

Der ICC verfügt dann über eine automatische Gerichtsbarkeit über die Staatsangehörigen von Staatsparteien und über die Staatsangehörigen, die nicht zu den Statut-Parteien gehören, “wenn entweder der Staat, auf dessen Territorium das Verbrechen begangen wurde, oder der Staat, dessen Bürger der Angeklagte ist, zustimmen.” Also können Bürger von Staaten, die nicht Statut-Parteien sind und Genozid auf dem Territorium von Staaten begingen, die ebenfalls nicht Statut-Parteien sind, ungestraft davonkommen.

Eine andere Beschränkung der Gerichtsbarkeit ist, daß das Gerichtsverfahren für Genozid durch einheimische Gerichte Priorität hat, wenn es in gutem Glauben durchgeführt wird (das inländische Strafrecht in über 70 Staaten sieht mit einigen definitorischen Variationen Genozid als inländisches Verbrechen). Und die Verfolgung von Genozid durch einheimische Gerichte wird häufiger. Auch wenn daher die Reichweite des ICC groß ist, hat es immer noch eine begrenzte Gerichtsbarkeit. Klare Fälle von Genozid können unverhandelt und ungestraft bleiben, wie dies auch der Fall war, als trotz der 1948er Genozid-Konvention Saddam Hussein eine systematische Vernichtung der irakischen Kurden-Minderheit im Jahre 1988 betrieb, wobei er Giftgas gegen sie einsetzte.

4. WAS IST DER URSPRUNG DES BEGRIFFS “GENOZID”?

Während Versuche, Gruppen zu vernichten, schon immer durchaus ein Teil der Menschheitsgeschichte war, wurden solche Gruppen normalerweise, wenn überhaupt, entweder identifiziert anhand der Beschreibung einer Aktion (“Dschingis Khan machte sich daran, die Tanguten in China 1226-1233 völlig zu vernichten”) oder indem man die Tat einem generellen Konzept unterordnete, wie etwa Massaker, Massenmord, Enthauptungen, Barbarei oder Unmenschlichkeit. Selbst die Versuche der internationalen Gemeinschaft, während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein humanitäres Recht zu entwickeln, fokussierten sich ganz auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in einem Krieg. Verschiedene Haager Verträge und die Genfer Konvention zum Beispiel machten es zu einem internationalen Verbrechen, Kriegsgefangene zu ermorden, wahllos Nicht-Kombattanten zu töten oder ins Visier zu nehmen, unbewaffnete Passagierschiffe zu versenken und dergleichen mehr. Darüber hinaus gab es Fälle, in denen Staaten gegenüber Nationen Druck ausübten oder Militäraktionen androhten, um Massaker unter ihren Landsleuten oder Religionsbrüdern zu stoppen, etwa als die europäischen Großmächte im späten 19. Jahrhundert drohten, gegen das Osmanische Reich wegen deren Massakern an Christen einzuschreiten.

Keiner der Haager Verträge oder der Genfer Konventionen erwähnte Genozid, noch wurden die Massaker, welche die Großmächte verhindern wollten, Genozid genannt. Es gab dafür einen simplen Grund, der von Winston Churchill, dem Premierminister Großbritanniens, erkannt wurde. Während des Zweiten Weltkriegs, als das schreckliche Ausmaß der nationalsozialistischen Ausrottung der Juden bekannt wurde, stellte Churchill fest, daß dies “ein Verbrechen war, das keinen Namen hatte”.

Der Jurist Raphale Lemkin, ein polnischer Gelehrter für Internationales Recht, prägte den rechtlichen Genozidbegriff im Jahre 1944. Er floh 1939 vor der deutschen Besatzung in Polen nach Schweden, und am Ende des Zweiten Weltkriegs ging er nach New York, um bei den Vereinten Nationen für eine internationale Genozid-Konvention zu werben. Danach lehrte er Recht an den Universitäten Duke und Yale und wurde viermal für den Friedensnobelpreis nominiert.

Im Jahre 1933 hielt Lemkin ein Referat auf einem internationalen Treffen in Madrid, worin er sich auf die Vernichtung rassischer, religiöser oder anderer sozialer Gruppen in der Geschichte konzentrierte. Er rief zur Schaffung einer internationalen Konvention auf, welche wie jene gegen Sklaverei und Piraterie die Vernichtung von Gruppen zu einem internationalen Verbrechen machen sollte, und nannte diese in Ermangelung eines besseren Begriffs “Akte der Barbarei”.

Er war mit diesem breiten Begriff nicht zufrieden, der nirgendwo in nachfolgendes internationales Recht einging. Jahre später dann stieß er auf Platons Gebrauch des griechischen Wortes genos für “Rasse” oder “Stamm”. Ganz spontan kam Lemkin auf die Idee, das lateinische –cide (-zid) anzufügen, was soviel für “Mörder” oder “Akt des Tötens” auf lateinisch heißt, wie etwa in Homizid oder Suizid.

Auf dem Höhepunkt des Holocausts und mit dieser Idee im Hinterkopf, schrieb Lemkin 1944 sein Buch über “Die Herrschaft der Achsenmächte im besetzten Europa”, welches die erste öffentliche Nennung dieses Konzepts enthielt. Im Buch schlug er eine internationale Regulierung des Genozids vor, der “Praxis, Nationen und ethnische Gruppen zu vernichten.”

Lemkin spielte eine bedeutende Rolle in den Prozessen des Internationalen Nürnberger Militärtribunals für die Nazi-Verbrechen. Er unterstützte auch einen UN-Gesetzesentwurf während der Debatte über Genozid, welcher mit der Resolution der Generalversammlung endete, die besagte, daß “Genozid ein Verbrechen unter internationalem Recht ist, welches die zivilisierte Welt verdammt, und für welches die betreffenden Auftraggeber und Komplizen zu bestrafen sind.”

5. GESCHICHTE DES GENOZIDS

Die erste rechtliche Anwendung des Begriffs Genozids erfolgte in der Anklageschrift des Nürnberger Tribunals 1945-46 gegen die Nazi-Kriegsverbrecher. Sie wurden angeklagt wegen “Kriegsverbrechen” (Anklagepunkt drei). Dies beinhaltete den “vorsätzlichen und systematischen Genozid, nämlich die Ausrottung rassischer und nationaler Gruppen, gerichtet gegen die Zivilbevölkerung bestimmter besetzter Gebiete, um Menschen bestimmter Rassen oder Klassen und nationale, rassische oder religiöse Gruppen, insbesondere Juden, Polen und Zigeuner, zu vernichten.” Gemäß der vorgenannten UN-Resolution zum Genozid, wurde die Frage der internationalen Genozidkonvention an den Wirtschafts- und Sozialrat der UN verwiesen. Deren Debatte und Beratung mündete in der Kommunikationsgruppe der Vereinten Nationen (UNCG) im Jahre 1948, die 1951 in Kraft trat und seitdem von 133 Staaten ratifiziert wurde.

Die Diskussion der UNO und die Genozid-Debatte und die abschließende Betrachtung der Genozid-Definition fokussierte sich auf die Schrecken des Holocausts und in der Prävention oder der Bestrafung zukünftiger holocaust-ähnlicher Vorfälle. Aus diesem Grund, erfüllt mit der Erinnerung an Leichenstapel, Gasöfen und hilflose Männer, Frauen und Kinder in langen Reihen, die den Gasöfen oder zu Maschinengewehrsalven zugeführt wurden, wurde Genozid als eines der schlimmsten internationalen Verbrechen betrachtet.

Die Definition der UNCG von Genozid ist die gleiche wie die der ICC-Paragraphen (a) bis (e), obgleich die Klarstellungen und Elemente, die der Definition vom PCICC hinzugefügt wurden, sehr ausführlich klarstellten, was das Verbrechen in der Praxis bedeutet. Wie erwähnt, ist es Genozid, selbst wenn der Akt nur eine Person berührt, und Folter, Vergewaltigung und sexuelle Gewalt sind ausdrücklich Genozid, wenn sie die Absicht beinhalten, eine unabänderliche Gruppe als ganzes oder zum Teil zu zerstören.

Nur Staaten können Parteien des UNCG sein, und ein Tribunal kann Verfahren wegen des Genozid-Verbrechens in dem Staat abhalten, in welchem der Genozid begangen wurde, „oder durch ein internationales Tribunal, dem die Gerichtsbarkeit über Vertragsparteien obliegt, welche diese Gerichtsbarkeit akzeptiert haben.“ Nur UNCG-Parteien können Genozid-Fälle im UNCG einbringen. Wenn solche Fälle den Staaten überlassen werden, spielen die internationale und die inländische Politik eine primäre Rolle. Und aus diesem Grund wurde kein Fall von Genozid bei der UNCG von einer Staatspartei eingebracht, auch wenn es viele mögliche Fälle gab, wie etwa Burundi (1972), das Kambodscha der Roten Khmer (1975-79), Irak (seit 1983), Myanmar (seit 1962), Nigeria (1967-70), Ruanda (1994), Serbien (in den 90ern), Sudan (ab 1956) und viele andere. Zudem wurden viele Fälle von Genozid von Nicht-Parteien oder von Parteien begangen, bevor sie das UNCG ratifizierten, wie etwa Angola, China, Kongo (Kinshasa), Indonesien, Pakistan, Paraguay und Sierra Leone.

Um mit den offenkundigen Fällen von Genozid und Kriegsverbrechen umzugehen, sind die Vereinten Nationen dazu übergegangen, Ad-Hoc-Tribunale zu errichten. Bislang existieren lediglich zwei, so das Internationale Straftribunal für Ruanda (ICTR) für den ruandischen Genozid von 1994. Es war erfolgreich darin, den Major Jean-Paul Akaysesu, den früheren Premierminister Jean Kambanda sowie den Geschäftsmann und Militärführer Omar Serushago des Genozids und anderer Verbrechen für schuldig zu befinden. Kambanda wurde wegen Genozids und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Darüber hinaus wurden andere hohe Beamte verhaftet und vor Gericht gestellt, darunter die früheren Minister für Erziehung, Gesundheit, Information, Auswärtiges, Inneres, Handel und Industrie. Da es sich um ein internes inländisches Geschehen handelte, also ein Verbrechen gegen das eigene Volk in einem inländischen Konflikt, stellte deren strafrechtliche Verfolgung einen wichtigen Präzedenzfall für die Anwendung internationalen humanitären Rechts dar. Zudem kooperierten viele Staaten mit dem ICTR, indem man Haftbefehlen des ICTR nachkam, wodurch zusätzliche Präzedenzfälle geschaffen wurden.

Das andere Tribunal ist das Internationale Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien, das im Jahre 1993 wegen schwerer Verstöße gegen das humanitäre Recht eingerichtet wurde. Genozid gehört zu den Verbrechen, welche von dieser Behörde untersucht wird. Sieben Personen sitzen nun Strafen ab, drei haben ihre Strafen abgesessen und zehn sind vorläufig freigelassen worden. Im Jahre 1999 stellte das Tribunal einen Haftbefehl gegen Slobodan Milošević, den früheren Präsidenten Jugoslawiens, und vier seiner Komplizen wegen Genozids und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus. Milošević steht nun vor dem Tribunal vor Gericht.

Die Vereinten Nationen unternahmen auch Versuche, ähnliche Tribunale wegen der Genozide und anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit der kambodschanischen Roten Khmer aufzustellen, wie auch neben anderen Gruppen wegen Genozids und anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Revolutionäre Vereinigte Front in Sierra Leone sowie wegen des indonesischen Genozids im früheren Ost-Timor (1975-98). Aus verschiedenen Gründen waren diese Tribunale nicht oder nur zum Teil erfolgreich, wie etwa im Falle des gemischt national-internationalen Sondergerichts für Sierra Leone.

In Zukunft werden die Aktivitäten dieser Tribunale womöglich in das ICC integriert, oder aber dem ICC wird die exklusive Gerichtsbarkeit übertragen. Tatsächlich ist das UNCG nun durch das ICC-Statut ersetzt worden.

6. GENOZID ALS SOZIOLOGISCHES KONZEPT

Abgesehen davon, daß es ein Verbrechen darstellt, ist Genozid auch ein Forschungsgebiet von Sozialwissenschaftlern und Gelehrten. Sie stellen solche Fragen wie nach der Geschichte des Genozids, seiner Dynamik und Phasen sowie seiner Bedingungen und Ursachen. Wenn wir Genozid aus der Welt verbannen oder reduzieren wollen, ist eine solche Forschung von wesentlicher Bedeutung. Es reicht nicht aus, durch gesetzliche Bestrafung eine Abschreckung erreichen zu wollen. Wir müssen auch verstehen, warum er geschieht. Doch ist die gesetzliche Definition von Genozid beim UNCG und ICC zu breit, indem es sehr verschiedene Verhaltensweisen wie Mord, geistige Schädigung, Geburtenverhinderung, Entfernung von Kindern von einer Gruppe usw. umfaßt.

Doch ist auch die gesetzliche Definition in einem anderen Sinne zu eng. Sie schließt nicht die Absicht mit ein, politische, wirtschaftliche und andere nicht-unabänderliche Gruppen zu vernichten. Viele staatliche Morde bezogen sich auf die Vernichtung nicht-unabänderlicher Gruppen. Es handelte sich um offenkundigen Mord, und die Absicht, den Mord zu begehen, ist der Handlung selbst inhärent. Zum Beispiel ist es offensichtlich staatlicher Mord, wenn Soldaten Zivilisten sich vor einer Mauer aufstellen lassen und sie ohne faires Gerichtsverfahren erschießen. Auf diese Weise geschahen Massenmorde an Geiseln durch die Nazis, Mord an Kulaken während der Stalin’schen Zwangskollektivierungskampagne in den 30er Jahren, die Ermordung von „Konterrevolutionären“ in den 50er und 60er Jahren unter Mao, das „erzwungene Verschwinden“ von Linken durch Todesschwadronen in Argentinien, Brasilien, Kolumbien, El Salvador, Honduras und anderswo in den 70er und 80er Jahren, sowie der Massenmord an früheren staatlichen Militäroffizieren und Beamten durch die Roten Khmer in Kambodscha zwischen 1975 und 1979.

Der Fortschritt, was unsere Kenntnisse des Genozids angeht, hängt fundamental von der Klarheit und Triftigkeit unserer Konzepte ab. Besonders sollten diese Konzepte sich auf reales Weltgeschehen beziehen, welches deutlich und einheitlich unabhängig von den jeweiligen Beobachtern und deren Einstellungen identifiziert werden kann. Denn wenn irgendein Gebiet der Sozialwissenschaften mit Neigungen und Voreingenommenheiten aufgeladen ist, dann hat dies sicherlich etwas mit dem Wer, Warum, Wann und Wie staatlichen Mordens zu tun.

Aus diesen Gründen haben Genozid-Wissenschaftler versucht, ihre eigenen Genozid-Definitionen zu entwickeln, welche besser dazu angetan sind, solches staatliches Morden zu verstehen. Untenstehend sind vier Definitionen, die von Forschern vertreten werden:

“Genozid ist eine Form einseitigen Massenmords, wobei ein Staat oder eine andere Autorität beabsichtigt, eine Gruppe zu vernichten, sofern diese Gruppe sowie die Zugehörigkeit zu ihr durch den Täter definiert werden.” (Frank Chalk and Kurt Jonassohn)

“Genozid im allgemeinen Sinne ist der Massenmord an einer beträchtlichen Anzahl von Menschen, sofern dieser nicht im Laufe militärischer Aktionen gegen einen erklärten Feind erfolgt, und die Bedingung gegeben ist, daß die Opfer grundsätzlich verteidigungs- und hilflos sind.“ (Israel W. Charny)

“Genozid ist eine nachhaltige absichtsvolle Aktion durch einen Täter, um ein Kollektiv direkt oder indirekt physisch zu zerstören, durch die Unterbindung der biologischen und sozialen Reproduktion der Gruppenmitglieder, gleichgültig ob das Opfer kapituliert oder eine fehlende Bedrohung darstellt.“ (Helen Fein)

Das “Konzept des Genozids ist nur dann gegeben, wenn eine in die Tat umgesetzte Absicht vorliegt, die erfolgreich ausgeführt wird, um eine gesamte Gruppe physisch zu zerstören (eine solche Gruppe wird von den Tätern definiert).“ (Steven T. Katz)

Quer durch die Rechtsliteratur und wissenschaftliche Literatur wird Genozid explizit oder implizit auf drei verschiedene Arten definiert:

a) Die rechtliche Definition

Die Definition des UBCG und des ICC, wie im Bericht der PCICC und oben in den Absätzen (a) bis (e) klargestellt.

b) Die landläufige Definition

Das absichtsvolle Töten (Ermordung) von Menschen durch den Staat aufgrund ihrer Gruppenidentität. Ungeachtet der gesetzlichen Definition und zweifellos vom Holocaust beeinflußt, tendiert der gewöhnliche Sprachgebrauch und auch der einiger Forscher dazu, den Begriff völlig gleichzusetzen mit Mord und ausschließlich Mord durch einen Staat an Menschen aufgrund deren spezifischer oder wahrgenommener Gruppenzugehörigkeit, was für einige Forscher auch politische und andere Gruppen mit einschließt. Diese Betrachtungsweise des Genozids ist im öffentlichen Bewußtsein so sehr verankert, daß es als äußerst falsch erscheint, Genozid auch zu postulieren bei nicht-tödlichen mentalen oder physischen Bedingungen, die einer Gruppe auferlegt werden.

Es ist anzumerken, daß bei dieser Definition die Vernichtung einer Gruppe nicht absichtsvoll erfolgen muß. Juden massenweise zu töten, weil sie Juden sind, Christen, weil sie Christen sind, Chinesen, weil sie Chinesen sind, wäre nach dieser landläufigen Definition Genozid. Darüber gibt es jedoch Verwirrung. Während nämlich einige Forscher in ihrer expliziten Definition erwähnen, daß die Vernichtung einer Gruppe absichtsvoll geschieht, führen sie bei der Anwendung des Begriffs oft auch Genozidfälle auf, bei denen die Absicht nicht explizit kundgetan wurde (wie etwa die von Stalin verursachten Hungersnöte in der Ukraine und die Deportation von Minderheitengruppen, der indonesische Massenmord in Ost-Timor und die Killing Fields der Roten Khmer in Kambodscha), wobei jedoch der Tatbestand der Ermordung von Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit klar ist.

c) Allgemeine Definition

Jedes absichtsvolle Töten (Mord) von unbewaffneten und hilflosen Menschen durch den Staat. In manchem Sprachgebrauch und vor allem unter Forschern (siehe die Definition von Charny oben) ist Genozid definiert worden, um eine Lücke bei den gesetzlichen und landläufigen Definitionen zu schließen. Die dahinterstehende Absicht ist, Massenmord an Menschen abzudecken, die aus anderen Gründen als ihrer Gruppenzugehörigkeit massenhaft getötet werden, wie etwa der Massenmord an Kriegsgefangenen, politischen Kritikern und Übertretern drakonischer Regeln, Mord infolge von Vergewaltigung oder sexueller Versklavung, im Laufe einer ideologischen Säuberung oder um einfach eine staatliche Todesquote zu erfüllen (wie in der Sowjetunion unter Stalin in den 30er Jahren oder in Nordvietnam in den 50ern). Keiner dieser Morde ist Genozid gemäß der gesetzlichen und geläufigen Bedeutungen.

Das Problem mit der verallgemeinerten Bedeutung von Genozid ist, daß man eine neue Lücke öffnet, sobald man eine andere schließt. Wenn sich nämlich Genozid auf jeglichen staatlichen Mord bezieht, gibt es dann keinen Namen für den Mord an Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit oder die Absicht, eine Gruppe als ganzes oder zum Teil zu vernichten? Genau wegen dieses konzeptuellen Problems ist der neue Begriff Demozid (aus dem griechischen demos für „Volk“) sinnvoll. Er bedeutet Mord durch Staat oder herrschende Autoritäten und ersetzt die verallgemeinerte Definition von Genozid, läßt somit das soziologische Konzept des Genozids übrig, um sich spezifisch auf Mord an Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit zu beziehen.

Einer der großen Vorteile des internationalen und humanitären Rechts des ICC-Statuts ist, daß er nun Mord und Vernichtung explizit als internationale Verbrechen definiert, egal ob in Kriegs- oder Friedenszeiten. Artikel 7.1 des Statuts beinhaltet die absichtsvolle „Ermordung“ und „Vernichtung“ einer oder mehr Personen als „’Verbrechen gegen die Menschlichkeit’, wenn es Teil eines breiten oder systematischen Angriffs ist, der gegen jedwede Zivilbevölkerung gerichtet ist, wobei dieser Angriff wissentlich erfolgt.“ Von besonderer Bedeutung ist, daß die „Vernichtung die absichtsvolle Auferlegung von Lebensbedingungen ist, darunter die Verhinderung des Zugangs zu Nahrung und Medizin, die darauf abzielt, die Vernichtung eines Teils der Bevölkerung herbeizuführen.“ (Artikel 7.2 b)

Mord und Vernichtung durch Staaten gehören zu der allgemeinen Definition von Genozid und Demozid. Daher stieß das ICC-Statut auf breite Kritik des UNCG, da es als zu eng angesehen wurde und auch den Mord oder die Vernichtung von Menschen aus anderen Gründen als den Versuch, unveränderliche Gruppen zu zerstören, hätte beinhalten sollen, auch wenn kein Genozidverbrechen vorliegt. In der Tat deckt das ICC nun fast alle Fälle von Demozid ab, mit Ausnahme von Morden an politischen Oppositionellen oder anderen Menschen (wie etwa störende Berichterstatter), welche nicht Teil eines verbreiteten oder systematischen Angriffs gegen die Bevölkerung sind.

7. GENOZID IN DER GESCHICHTE

In der Geschichte sind Hunderte Millionen von Menschen von ihren Staaten oder Herrschern ermordet worden. Und das weil sie gehaßt wurden, der falschen ethnischen Gruppe, Rasse, Religion oder Nationalität angehörten, im Wege standen, als Bedrohung oder Feinde angesehen wurden, aus einer Laune heraus oder ohne jeglichen Grund. Eine konservative Schätzung kam auf ungefähr 133 Millionen, eine Zahl, deren Größe nur durch die geringe Weltbevölkerung limitiert wurde. Im Gegensatz dazu mag die Zahl der Kriegstoten vor dem 20. Jahrhundert  ungefähr 40 Millionen betragen haben; die Schwarze Pest während des 5. bis zum 20. Jahrhundert hat vielleicht 102 Millionen Menschen das Leben gekostet.

Nur ein paar Beispiele werden genügen. Als in China ein Herrscher einem anderen nachfolgte und ein Krieg um die Herrschaft die Bevölkerung vernichtete, wurden mehrere zehn Millionen Menschen ermordet. Allein während des Taiping-Aufstands (1851-64), wurden mehr als vierzig Millionen Menschen getötet, die große Mehrheit davon wahrscheinlich ermordet. Die Mongolen, von denen Dschingis Khan ein besonders ruchloser Mörder war, zerstörten weite Teile von Persien, des Mittleren Ostens, Osteuropas, Rußlands und China und ermordeten während des 14. und 15. Jahrhunderts vielleicht 30 Millionen Menschen (etwa 13% der Weltbevölkerung). Dann gab es natürlich die Sklaverei, die für die Ermordung von etwa 17 Millionen afrikanischer Schwarzer verantwortlich war, sowie den Mord an den Indianern der amerikanischen Kontinente mit etwa weiteren 13 Millionen Toten. Dies sind lediglich die bekanntesten Beispiele, doch es gab auch die weniger tödlichen Morde, was die Anzahl der Opfer anging, wie etwa der Mord an Christen durch die Römer, die christlichen Kreuzzüge, die Menschenopfer der Azteken, die spanische Inquisition, die Hexenverfolgungen, die häufigen antijüdischen Pogrome in ganz Europa und so weiter.

Bis zum 20. Jahrhundert hatte sich die menschliche Bevölkerung vervielfacht. Zur Zeit der Mongolen betrug die Zahl der Weltbevölkerung etwa 400 Millionen. Im Jahre 1900 waren es 1,2 Milliarden Menschen, die sich bis Mitte 2001 auf 6,1 Milliarden vermehrten. Dadurch daß es viel mehr Menschen zum Töten gab, töteten die Staaten auch viel mehr Menschen. Allein im 20. Jahrhundert überschritt die Bilanz die Anzahl aller zuvor Ermordeten, nämlich unglaubliche 174 Millionen. Möglicherweise sogar ungefähr 340 Millionen. Um sich ein Bild davon zu machen, wäre dies so, als ob die Welt einen katastrophalen Nuklearkrieg in Zeitlupe erlitten hätte. Die konservative Zählung von 174 Millionen Ermordeten ist vier mal höher als die Zahl der im Kampf in allen Bürger- und zwischenstaatlichen Kriegen Getöteten des Jahrhunderts, einschließlich des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Diese vielen Leichen würden Kopf an Zehenspitzen aneinandergereiht die Erde ungefähr vier mal umrunden.

Der schlimmste Mörderstaat war die Sowjetunion, wo Lenin, Stalin und deren Nachfolger wahrscheinlich 62 Millionen ihrer Bürger sowie Ausländer ermordeten. Seit 1923 ist die Kommunistische Partei Chinas unter Mao Tse-Tung und dessen Nachfolgern für 39 Millionen ermordete Chinesen verantwortlich. Die Nazis unter Hitler führten den Holocaust gegen die Juden durch, der jedermann bekannt ist. Doch weniger bekannt sind die anderen Nazi-Morde, die einschließlich der Juden eine Zahl von 21 Millionen ergeben. So gut wie unbekannt ist, daß die chinesische Nationalistenregierung zur Zeit ihrer Herrschaft unter Chiang Kai-Shek zwischen 1928 und 1949 ungefähr 10 Millionen Chinesen ermordete. Es gab weniger mörderische Staaten, die eine Million oder mehr Menschen töteten, aber unter 10 Millionen blieben. Sie sollen hier nur aufgezählt werden, in Klammern die Jahreszahlen und die ungefähre Zahl der Ermordeten in Millionen: Japan (1937-45: 6), Kambodscha der Roten Khmer (1975-79: 2), Türkei (1909-18: 1,9), Vietnam (1945-87: 1,7), Nordkorea (1948-2002: über 2), und Jugoslawien unter Tito (1944-87: 1). Mehr als hundert andere Staaten ermordeten ihren Anteil an den Zehn- oder Hunderttausenden von weiteren Ermordeten in diesem Blutbad des 20. Jahrhunderts. All dieses Töten wäre nun unter dem ICC ein Verbrechen.

Bei wievielen davon jedoch handelt es sich um das Verbrechen Genozid? Jene Fälle, die am eindeutigsten solche Verbrechen darstellen würden, sind natürlich der Holocaust, bei dem 5 bis 6 Millionen Juden ermordet wurden. Beide UN-Tribunale, das für Ruanda (insgesamt etwa 500.000 bis 750.000 Ermordete Tutsi im Jahre 1994) und das für Jugoslawien (etwa 25.000 bis 100.000 Ermordete in Bosnien-Herzegowina) sind zum Schluß gekommen, daß Genozid stattgefunden hatte und haben entsprechende Strafen verhängt. Einige andere größere Fälle, auf die der Begriff Genozid ganz oder zum Teil angewandt werden kann, sind der Massenmord 1909-23 an Armeniern, Griechen und anderen Christen durch türkische Regime (ungefähr 2,1 Millionen Armenier und 347.000 Griechen), der Mord der kambodschanischen Roten Khmer 1975-79 an buddhistischen Mönchen, kambodschanischen Vietnamesen, Muslimen und anderen Minderheiten (541.000), die deutsche Ermordung von Hereros, Hottentotten und Berg-Damaras in Namibia (72.000), der Mord an Hutus in Burundi 1967-87 (150.000), der kroatische Mord während des Zweiten Weltkriegs an Serben und Juden (655.000), der irakische Mord an Kurden und südlichen Schiiten 1966-88 (mehr als 100.000).

Wenn wir die geläufige Definition von Genozid benutzen, dann gibt es viel mehr Fälle, die zu den zur rechtlichen Definition passenden hinzuzuzählen sind und die vielleicht ungefähr achtzig Millionen durch Staaten Ermordete ergeben. Einige der größeren Fälle wären dann die von Stalin erzwungene Hungersnot in der Ukraine 1932-33, die ungefähr 5 Millionen Menschen tötete, der Mord des kommunistischen China an 375.000 Tibetern, Muslimen in Sinkiang und anderen Minderheiten, der Massenmord West-Pakistans im Jahre 1971 an mehr als einer Million Bengalen und Hindus in Ost-Pakistan (heute Bangladesch), der indonesische Massenmord 1965 an 509.000 Kommunisten und ethnischen Chinesen sowie die Morde zwischen 1975 und 1998 an mehr als 150.000 Menschen in Ost-Timor, der anhaltende Mord im Sudan seit 1955 an südlichen Christen und Schwarzen, der insgesamt über 1 Million Menschenleben kostete, sowie in der ganzen Welt der Massenmord an mehreren zehn Millionen einheimischen Völkern und Eingeborenen in Kolonien.

8. GRÜNDE UND BEDINGUNGEN FÜR GENOZID

Sozialwissenschaftler und Gelehrte haben allgemein ihr Verständnis von Genozid in Begriffe gefaßt, die sich beziehen auf die politische Struktur, in welcher Genozid stattfindet, auf den Kontext, in welchem er geschieht, auf die Motive der Täter, die Eigenschaften der Opfer und auf die Phasen, in denen der Genozid vonstatten geht.

a) Staatliche Institutionen

Es geht klar aus empirischen und historischen Forschungen hervor, daß Demozid inklusive Genozid (wie auch immer er definiert wird), Facetten totalitärer Systeme und in einem geringeren Ausmaß autoritärer Systeme sind. Mit zunehmender demokratischer Unfreiheit von Menschen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Art von inländischen Genozids oder Demozids, wie in der totalitären Sowjetunion unter Stalin, Hitlers Deutschland und Maos kommunistischem China, oder auch im faschistischen China von Chiang Kai-Shek, in Francos Spanien und im Ungarn unter Admiral Miklos Horthy, oder im Irak von Diktator Saddam Hussein, im Uganda von Idi Amin und der Türkei unter Mustafa Kemal Atatürk. Jene Staaten, die so gut wie keinen inländischen Genozid oder andere staatlichen inländischen Morde oder Vernichtungskampagnen betreiben, sind die modernen Demokratien, welche die bürgerlichen Freiheiten und politischen Rechte anerkennen. Um vorherzusagen, wo Genozid wahrscheinlich passiert, sollte man zuerst auf die totalitären und danach auf die autoritären Staaten schauen.

b) Kontext

Wie auch immer die politischen Institutionen eines Staates beschaffen sind – die Wahrscheinlichkeit eines Genozids steigt scharf an, wenn der Staat in einen internationalen oder inländischen Krieg verwickelt ist. Der Holocaust ist ein eindeutiges Beispiel. Es gab Massenmord an Juden vor 1939, doch nicht als staatliche Politik, alle Juden zu ermorden, wo immer sie unter deutsche Kontrolle gerieten. Eine solche Politik trat erst dann in Erscheinung, als Deutschland sich im Zweiten Weltkrieg befand. Ähnlich verhielt es sich mit dem Massenmord an den Armeniern durch den Staat der Jungtürken. Während des Ersten Weltkriegs lieferte die türkische Allianz mit Deutschland und die russische Invasion der Osttürkei den Jungtürken die Gelegenheit, die Türkei ein für alle mal von Armeniern und Christen zu säubern. Ähnliches gilt für die Stalin’schen Deportationen von ethnischen und nationalen Minderheiten, wie Deutschen, Griechen, Mescheten, Tataren, Urkainern und anderen während des Zweiten Weltkriegs, was den Tod von etwa 750.000 Menschen forderte. Vielleicht eine Million oder mehr Menschen wurden während der Mexikanischen Revolution von 1910-20 ermordet. Und weitere Beispiele von Genozid, der während militärischer Eingriffe, Bürgerkriegen oder Unabhängigkeitskriegen durchgeführt wurde, sind Angola, Burma, Chile, beide Kongos, Kolumbien, El Salvador, Indonesien, Iran, Irak, Libanon, Myanmar, Nigeria, Ruanda, Sudan, Syrien, Jugoslawien (Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina) und so viele andere. Krieg diente stets als Entschuldigung, Deckung oder Anreiz für Genozid und Massenmord.

c) Motive

Es gab umfangreiche Forschungen zur Frage, warum ein Täter eine Gruppe vernichten, oder wenn nicht die Gruppe als solche, dann doch Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit vernichten wollen sollte. Motive sind oft komplex und verschlungen, doch man kann aus so einer Mischung normalerweise ein Hauptmotiv herausfiltern.

Ein solches Motiv ist es, eine Gruppe zu vernichten, die als Bedrohung für die herrschende Macht wahrgenommen wird. Ein Beispiel dafür waren die Parlamentswahlen 1970 in Pakistan, welche das politische Gewicht Ostpakistans offenlegten, was die Kontrolle über Ostpakistan durch Westpakistan sowie die Macht der Militärregierung bedrohte. Diese besetzte daraufhin Ostpakistan militärisch und ermordete über eine Million bengalische Führer, Intellektuelle, Berufstätige und jeden Hindu, dessen das Militär habhaft werden konnte.

Ein solcher Fall war auch der starke Widerstand der ukrainischen Bauern gegen Stalins Kollektivierungsprogramm 1931-32, gepaart mit der Bedrohung der kommunistischen Kontrolle durch den ukrainischen Nationalismus. Was also im Jahre 1932 eine leichte Hungersnot in der Region gewesen wäre, wurde von Stalin um ein vielfaches vergrößert, indem er Nahrung und deren Quellen beschlagnahmte (Viehbestände, Haustiere, Saatgut, Abschießen von Vögeln in den Bäumen etc.) und indem er die Einfuhr von Nahrung in die Ukraine boykottierte. Selbst Besucher der Ukraine wurden durchsucht und ihnen Nahrung abgenommen, bevor sie die Sowjetrepublik betraten. Ungefähr fünf Millionen Ukrainer verhungerten.

Und mit einem solchen Fall hatten wir es auch zu tun, als die ruandische Hutu-Mehrheitsregierung es unternahm, alle Tutsi in ihrer Reichweite zu einer Zeit zu ermorden, als es Unruhen wegen eines größeren Einfalls der aus dem Ausland operierenden Ruandischen Patriotischen Front der Tutsi im nördlichen Teil des Landes gab.

Ein zweites Motiv ist zutiefst emotionaler Natur und betrifft die Vernichtung derer, die man haßt, verachtet oder umgekehrt beneidet und gegen die man Ressentiments hat. Der Genozid an Juden im Laufe der Geschichte und besonders der Holocaust war grundsätzlich ein Akt religiösen und ethnischen Hasses, gemischt mit Neid und Ressentiments wegen deren unverhältnismäßig großen wirtschaftlichen und beruflichen Errungenschaften. Ähnlich verhielt es sich mit dem Genozid an den Armeniern 1915-18 in der Türkei, wo Armenier einen weit überdurchschnittlichen Wohlstand und beruflichen Status genossen, aber auch als Christen in einer muslimischen Gesellschaft gehaßt wurden.

Ein drittes Motiv für Genozid ist das Streben nach einer ideologischen Transformation der Gesellschaft. So sind die Genozide und Demozide zu verstehen, die zum Beispiel von kommunistischen  Gesellschaften durchgeführt wurden, wo die Widerständler als Feinde der Ideologie betrachtet und ermordet wurden, wie etwa Grundbesitzer, Kulaken, Nationalisten, „Rechtsabweichler“ und „Konterrevolutionäre“.

Ein viertes Motiv ist Reinigung, oder der Versuch, aus der Gesellschaft fremden Glauben, fremde Kultur und Praktiken und fremde ethnische Gruppen zu eliminieren. „Ethnische Säuberung“, „Ungezieferbeseitigung“ oder „Prophylaxe“ sind Begriffe dafür. Beispiele sind der systematische Versuch von Mao Tse-Tung und Stalin, Menschen zu eliminieren, die nicht an deren kommunistische Gesellschaftsmodelle glaubten; der Vorstoß im Mittelalter, das gleiche in Bezug auf das Christentum zu tun; die Auslöschung christlicher Gruppen und muslimischer „Gotteslästerer“ in vielen gegenwärtigen islamischen Ländern wie im Iran und in Saudi-Arabien; die ethnische Säuberung, welche die Serben in Bosnien-Herzegowina in den 90er Jahren praktizierten; und der Krieg, den das Militär in Myanmar (Burma) gegen die Karen und andere ethnische Gruppen durchführt.

Und ein fünftes Motiv ist der wirtschaftliche Gewinn. Raffgierige Kolonialmächte oder Individuen (wie der belgische König Leopold, der den Kongo-Freistaat persönlich besaß), ermordeten massenweise mehrere zehn Millionen Menschen in ihren Kolonien, die im Wege standen, sich dem Raubbau am Reichtum der Kolonie widersetzten, oder die man zu Tode arbeiten ließ; und gleiches gilt für den Massenmord an Indianern in der Neuen Welt, der bis heute andauert. Und viele Millionen wurden auch ermordet, während sie gefangengenommen, transportiert und in Sklaverei gehalten wurden.

d) Phasen

Dann gibt es die Phasen, in denen die Gründe und Bedingungen für Genozid sich entwickeln und dann allmählich in offenem Genozid enden, wie dies Gregory H. Stanton beschrieb. Wenn es sich um einen autoritären oder totalitären Staat handelt, gibt es folgende Phasen:

1. Klassifizierung: Menschen werden typologisiert, kategorisiert und in verschiedene Gruppen klassifiziert, wie etwa Weiße, Schwarze, Asiaten oder auch Christen und Juden oder auch Kommunisten, Linke oder Rechte.

2. Symbolisierung: Verschiedene Gruppen werden mit Namen versehen, wie Chinesen, Juden, Hindus oder Marxisten. Besondere Kleidung (wie etwa ein Turban), Nahrung (wie Reis), physische Besonderheiten (wie lange Nasen) oder Verhalten (wie “undurchschaubar”) werden dazu verwendet, Gruppenmitglieder zu stereotypisieren. Klassifikation und Symbolisierung sind allen Gesellschaften gemein, und auch wenn sie notwendige Voraussetzungen für Genozid sind, sagen sie nicht voraus, daß er passieren wird oder daß die folgenden Phasen eintreten.

3. Entmenschlichung. Die Mitglieder der außenstehenden Gruppen werden entmenschlicht, indem man sie Affen, Kakerlaken, Parasiten, Ratten, Abschaum und dergleichen nennt. Auf diese Weise bewirkt man, daß die Mitglieder der außenstehenden Gruppe klar als außerhalb “unseres” moralischen Universums stehend erscheinen. Als Abschaum und dergleichen fallen die Mitglieder der außenstehenden Gruppen aus dem moralischen gruppeninternen Schutz gegen Vernichtung heraus.

4. Organisation. Beamte, sympathische Führer der Ingroup und Intellektuelle organisieren die Unterdrückung und Ermordung der Mitglieder der Outgroup oder der gesamten entmenschlichten Gruppe. Es werden Waffen zum Austeilen gelagert; Milizen, Sicherheitskräfte oder Militär werden ausgewählt und trainiert; vorläufige Pläne werden geschmiedet.

5. Polarisierung: Beamte, Extremisten, Propagandisten oder Demagogen unternehmen eine systematische Kampagne, um die soziale, psychologische und moralische Distanz zwischen “uns” und “ihnen” zu maximieren. In dieser Phase werden moderate Intellektuelle und Führer entweder durch Einschüchterung, Schläge, Verhaftung oder direkte Ermordung mundtot gemacht.

6. Vorbereitung: Alles ist bereit für den Genozid, und der letzte Schritt ist die Identifizierung der zu Tötenden. Sie können gezwungen werden, sie identifizierende Kleidung oder Symbole auf ihrer Kleidung zu tragen, oder sie werden in Ghettos abgesondert. Listen mit den zu tötenden können für Todesschwadronen vorbereitet werden, und die Outgroup kann systematisch ihrer Rechte beraubt werden und es werden ihnen in Razzien ihre Waffen abgenommen. Jene, die den Widerstand gegen den Genozid anführen könnten, wie junge Männer, können zum Militär eingezogen werden und für die nachfolgende Hinrichtung segregiert oder einfach inhaftiert werden.

7. Genozid: Aus irgendeinem Anlaß wird die endgültige Entscheidung getroffen, die Menschen in der Outgroup anzugreifen und zu zerstören, oder die Gruppe als solche zu vernichten. Dies mag als gerechte Kampagne zur Vernichtung von Abschaum oder zur Säuberung der Gesellschaft von Schmutz gerechtfertigt werden, oder als Wiederherstellung alter Größe oder als Rettung der Rasse der Nation, als Rache für vergangenes Unrecht usw.

8. Leugnung. Die letzte Phase ist die Leugnung des Genozids durch die Täter. Sie vernichten oder verbergen die relevanten offiziellen Beweise, verbrennen Körper, hinterlassen unmarkierte Gräber oder erfinden einen plausiblen Grund für das Töten (“sie befanden sich in einem Aufstand”, “sie wurden während des Bürgerkriegs getötet”, oder “sie waren Gehilfen unserer Feinde”). Zudem können die Täter diejenigen drangsalieren, die behaupten, daß ein Genozid stattgefunden habe. Die kohärenteste und weitreichendste offizielle Leugnung heute ist die des türkischen Staats, daß der Mord an über einer Million Armeniern während des Ersten Weltkriegs Genozid gewesen sei. Laut türkischer Darstellung, starben sie als Folge eines Bürgerkriegs, einer Invasion durch Rußland, und des Versuchs des Jungtürkenstaats, potentielle und aktuell feindliche Armenier zu ihrem eigenen Schutze in einen anderen Teil des Landes zu deportieren.

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* Erscheint bald in der Enciclopedia Italiana

 

Übersetzung: David Schah