ZUSAMMENFASSUNG: 1. Einführung.
2. Was ist Genozid? 3. Rechtsprechung zum Verbrechen des Genozids.
4. Was ist der Ursprung des Begriffs? 5. Geschichte des Verbrechens
Genozid 6. Genozid als soziologisches Konzept: a) die rechtliche
Definition b) die gängige Definition c) die allgemeine Definition
7. Genozid in der Geschichte 8. Gründe und Bedingungen für
Genozid: a) Staatliche Institutionen b) Kontext c) Motive
d) Schauplätze 9. Bibliographie
1. EINLEITUNG
Genozid
wird gemeinhin als eines der moralisch schlimmsten Verbrechen
angesehen, das ein Staat (im Sinne jeder herrschenden Amtsgewalt,
darunter auch die einer Guerillagruppe, eines Quasi-Staats,
eines Sowjets, einer Terrororganisation oder einer Besatzungsbehörde)
gegen seine Bürger oder von ihm kontrollierte Menschen begehen
kann. Der Hauptgrund dafür ist das, was die Welt über den
Holocaust erfuhr, also über den systematischen Versuch der
deutschen Behörden während des Zweiten Weltkriegs, sämtliche
Juden zu töten, egal wo man sie fand, die Juden also als Gruppe
zu vernichten. Dieser Mord an 5 bis 6 Millionen Juden wurde
zum paradigmatischen Fall des Genozids und ist die Grundlage
für die Entstehung dieses Wortes. Als die Welt auch von anderen
Genoziden erfuhr, gab es einen internationalen Versuch durch
die Vereinten Nationen, Genozid zum internationalen Verbrechen
zu erklären und die entsprechenden Verbrecher zur Rechenschaft
zu ziehen. So billigte und verabschiedete die UN im Jahre
1948 die Konvention zur Verhinderung und Bestrafung des Verbrechens
des Genozids (UHCG), und in jüngster Zeit wurde die Schaffung
des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) ratifiziert. Als
Verbrechen definierte die UHCG Genozid als Absicht, eine nationale,
ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz
oder zum Teil zu zerstören. Der ICC übernimmt diese Definition,
arbeitet sie weiter aus, liefert eine breitere Gesetzesgrundlage
und kann jede Person unabhängig von ihrem Status oder Rang
anklagen. Beachtenswert ist die Tatsache, daß der ICC nun
nicht nur Genozid abdeckt, sondern auch Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, welche abgesehen von Genozid auch staatlichen
Mord, Ausrottungskampagnen, Versklavung, Deportation, Folter,
Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, erzwungenes Verschwinden
und Apartheid einschließt.
Genozid
ist auch Gegenstand von Sozialwissenschaften und wissenschaftlichen
Untersuchungen, doch seine rechtliche Definition macht eine
empirische und historische Forschung nicht leicht. Aus diesem
Grund gab es für die wissenschaftliche Forschung im wesentlichen
zwei Definitionsarten für Genozid. Die eine ist die Definition
von Genozid als die Absicht, Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit
zu ermorden, selbst wenn diese politische oder wirtschaftlicher
Art ist. Eine zweite Definition, die auch als Demozid
bezeichnet werden kann, ist jedwede absichtliche staatliche
Ermordung unbewaffneter oder hilfloser Menschen aus irgendeinem
Grunde.
Nimmt
man beide sozialwissenschaftlichen Definitionen als Grundlage,
dann haben Staaten während des zwanzigsten Jahrhunderts wahrscheinlich
rund 174 Millionen Menschen ermordet. Die meisten dieser Morde,
vielleicht rund 110 Millionen, gehen auf das Konto kommunistischer
Staaten, hauptsächlich der UdSSR unter Lenin und Stalin und
ihrer Nachfolger (62 Millionen Ermordete) und China unter
Mao Tse-Tung (35 Millionen). Einige andere totalitäre oder
autoritäre Staaten sind ebenfalls im großen Ausmaß mitverantwortlich
für diese Bilanz, vor allem Hitlers Deutschland (21 Millionen
Ermordete) und Chiang Kai-Sheks nationalistische Regierung
in China (ungefähr 10 Millionen). Zu anderen Staaten, die
weniger Millionen Menschen ermordeten, gehören das Kambodscha
der Roten Khmer, Japan, Nordkorea, Mexiko, Pakistan, Polen,
Rußland, Türkei, Vietnam und Titos Jugoslawien.
Grundsätzlich
ist Genozid das Produkt der Art von Regierung, die ein Land
hat. Es gibt eine hohe Korrelation zwischen dem Grad der demokratischen
Freiheit, den die Menschen genießen, und der Wahrscheinlichkeit,
daß der Staat Demozid begehen wird. Moderne demokratische
Staaten haben praktisch keinen inländischen Genozid begangen.
Die Staaten, die den meisten Genozid begehen, sind totalitäre
Staaten, während diejenigen, die weniger Genozid begingen,
zum Teil oder völlig autoritär und diktatorisch waren.
Unabhängig
von der Art des Staates, steigt die Wahrscheinlichkeit von
Genozid, während der Staat in einen Krieg verstrickt ist,
oder wenn er innerlich zerrissen ist, wie bei Revolution,
Rebellion oder ausländischen Invasionen. Diese liefern den
Deckmantel und den Vorwand für Genozid. Egal ob im Krieg oder
im Frieden: Das Motiv für Genozid kann sein, daß man einer
wahrgenommenen Bedrohung für den Staat oder dessen Politik
begegnen will, daß man diejenigen, die man haßt oder verachtet,
vernichten will, daß man die ideologische Transformation der
Gesellschaft verfolgt, daß man die Gesellschaft reinigen oder
einen wirtschaftlichen oder materiellen Gewinn erlangen will.
Nimmt
man eine nichtdemokratische Gesellschaft, dann erfolgt inländischer
Genozid in acht Stufen, welche sind: Die Klassifizierung der
Menschen in verschiedene Kategorien, die Stigmatisierung der
Menschen durch Benennung oder Charakterisierung, die Entmenschlichung
der Mitglieder dieser Gruppe, das Organisieren des Mordes
oder der Ausrottung von Mitgliedern dieser Gruppe, die Polarisierung
der moralischen Distanz zwischen den Gruppen, das Vorbereiten
einer Ausrottungskampagne, der eigentliche Genozid und nach
dem Geschehen die Leugnung, daß ein Genozid durchgeführt wurde.
2. WAS
IST GENOZID?
Genozid
ist zuerst einmal ein internationales Verbrechen, für das
Individuen, unabhängig von der Höhe ihres Amts, vom Internationalen
Strafgerichtshof (ICC) angeklagt, einem Gerichtsverfahren
unterzogen und bestraft werden können. Gemäß Artikel 6 des
ICC-Statuts beinhaltet dieses Verbrechen “jede der folgenden
Taten, die in der Absicht begangen werden, eine nationale,
ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz
oder teilweise zu zerstören:
a)
Tötung von Mitgliedern
der Gruppe;
b)
Verursachung von
schweren körperlichem und seelischen Schaden an Mitgliedern
der Gruppe;
c)
Vorsätzliche Auferlegung
von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre
körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
d)
Verhängung von Maßnahmen,
die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet
sind;
e)
Gewaltsame
Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.”
Es
gibt zu diesen Statuten eine Reihe von anzumerkenden Dingen:
1. Der Täter muß nicht notwendigerweise ein Staat oder sein
Militärapparat sein, sondern kann unter anderem auch eine
internationale Organisation, wie etwa eine UNO-Friedenstruppe,
die NATO, oder eine terroristische oder Guerilla-Organisation
sein.
2.
Unabhängig davon, unter welcher Behörde ein Genozid geschieht,
so wird er doch formuliert, geplant und ausgeführt von Individuen,
und es sind auch Individuen, die der ICC wegen des Verbrechens
des Genozids belangen wird. Im Gegensatz zum Internationalen
Gerichtshof, der nur im Falle von Disputen zwischen Staaten
entscheidet, ist der ICC ein Strafgericht, das Individuen
belangt, internationale Haftbefehle für deren Verhaftungen
ausstellt, gegen sie verhandelt und sie bestraft. Dies wird
in Artikel 27 explizit erläutert: “Dieses Statut gilt gleichermaßen
für alle Personen, ohne jeden Unterschied nach amtlicher Eigenschaft.
Insbesondere enthebt die amtliche Eigenschaft als Staats-
oder Regierungschef, Mitglied einer Regierung oder eines Parlaments,
gewählter Vertreter oder Amtsträger einer Regierung eine Person
nicht der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach diesem
Statut und stellt für sich genommen keinen Strafmilderungsgrund
dar.”
3.
Der Vorsatz des Täters ist entscheidend (Absicht, Ziel). Gemäß
dem Bericht der Vorbereitungskommission für den Internationalen
Strafgerichtshof (PCICC), kann der ICC solches folgern aus
Tathandlungen,
die “im Rahmen eines erkennbaren Musters ähnlicher Handlungen,
das gegen die Gruppe gerichtet ist, begangen werden oder selbst
die Gruppe zu zerstören geeignet sein” (Artikel 6a), was “Anfangshandlungen
in einem entstehenden Muster” (Artikel 6 der Einleitung) mit
einschließt.
4.
Die Begrenzung von Genozid auf lediglich nationale, ethnische,
rassische oder religiöse Gruppen bezieht sich auf Gruppen,
in die man hineingeboren wird. Diese können unabänderliche
Gruppen genannt werden. Im Falle einer religiösen Gruppe kann
man sich zwar aussuchen, ob man eine solche als Erwachsener
verläßt, doch wird dies selten getan, und man kann dennoch
mit der betreffenden religiösen Gruppe anhand physischer Charakteristika,
wie etwa Juden, identifiziert werden. Das Verbrechen des Genozids
ist nicht anwendbar auf die Absicht, politische, ideologische,
ökonomische, militärische, berufliche oder andere Gruppen
zu vernichten. So wäre der Massenmord an vielleicht einer
Million oder mehr “kapitalistischer Abweichler”, “Rechtsabweichler”
und Kontrarevolutionäre während der chinesischen Kulturrevolution
(1966-69) kein Genozid. Auch nicht der systematische Mord
an Zehntausenden von Kommunisten und Linken durch Todesschwadronen
in Lateinamerika in den 60er bis 80er Jahren. Der oft angeführte
Grund dafür, solche Gruppen auszuschließen, ist der, daß man
die Wahl hat, sich solchen Gruppen anzuschließen, und daß
die Art und Mitgliedschaft in solchen Gruppen nicht so klar
ist wie für die unabänderlichen Gruppen.
5.
In der Definition von Genozid, ist der Begriff “als solcher”
wichtig. Er bedeutet, daß die definierte Gruppe durch Absicht
explizit zur Zielscheibe der Vernichtung wird, und eine solche
Vernichtung ist kein unabsichtsvolles Ergebnis, Nebenprodukt
oder Nebeneffekt einer Absicht, die auf ein anderes Ziel hinausläuft,
wie etwa Verteidigungsoperationen, um militärische Ziele während
eines Kriegs oder einer Rebellion anzugreifen.
6.
Auch das Wort “vernichten” ist kritisch. Die Handlungen, die
mit dieser Absicht durchgeführt werden, sind oben in (a) bis
(e) sorgfältig definiert. Sie schließen zum Beispiel Versuche
aus, eine unabänderliche Gruppe aus einem Territorium zu beseitigen
durch ethnische Säuberung (was ihre erzwungene oder gewaltsame
Entfernung einschließt), oder die Zerstörung der Kultur einer
Gruppe, wie zum Beispiel durch die erzwungene Erziehung ihrer
Kinder in einer anderen Sprache und mit anderen Sitten. Während
“Kultur” in den Artikeln des ICC-Statuts und des Berichts
des PCICC unerwähnt bleibt, und im Laufe der Entwicklung der
Genozid-Rechtssprechung durchaus eingeschlossen wird, würde
“ethnische Säuberung” im Statut als ein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit erscheinen. Nach Artikel 7.1.d ist es ungesetzmäßig,
eine Bevölkerung zu deportieren oder per Zwang umzusiedeln.
7.
“Ganz oder zum Teil” bedeutet, daß es keine Untergrenze
in Bezug auf die Anzahl der Menschen gibt, an denen diese
Handlungen begangen werden können. Es ist Genozid, selbst
wenn eine der Handlungen von (a) bis (e) an nur einer Person
mit der beschriebenen Absicht vollzogen werden.
8.
Man glaubt gemeinhin, daß Genozid den Mord an Mitgliedern
einer unabänderlichen Gruppe bedeutet. Doch das ist nicht
richtig. Die Handlungen (b) bis (e) verdeutlichen, daß Genozid
auch die Absicht beinhaltet, eine Gruppe oder eine oder mehrere
ihrer Mitglieder durch andere Mittel als Töten zu vernichten.
9-
In Punkt (b) kann “schwerer
körperlicher und seelischer Schaden” auch Handlungen wie Folter,
Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Apartheid oder eine andere
unmenschliche oder degradierende Behandlung beinhalten (PCICC,
Fußnote 3). Daß diese unmenschlichen Handlungen neben anderen
explizit im ICC-Statut enthalten sind, ist ein größerer Fortschritt
in der Kriminalgesetzgebung zum Genozid.
10.
In Punkt (c) können “Lebensbedingungen” auch den “vorsätzlichen
Entzug von Ressourcen, die für das Überleben unabdinglich
sind, wie etwa Nahrung oder medizinische Versorgung, oder
die systematische Vertreibung von Zuhause” beinhalten. (PCICC,
Absatz 4)
11.
Der Begriff “gewaltsam” in Punkt (e) “beschränkt sich nicht
auf physische Gewalt, sondern kann auch Gewaltandrohung beinhalten,
wie sie etwa durch die Angst vor Gewalt, Nötigung, Inhaftierung,
psychologischer Unterdrückung oder Machtmißbrauch verursacht
wird, oder durch das Ausnutzen einer Zwang verursachenden
Umgebung.” (PCICC, Absatz 5).
12.
Schließlich muß angemerkt werden, daß es viele andere Verbrechen
gibt, die nicht unter die Definition des Verbrechens des Genozids
fallen, die aber ebenfalls Gegenstand der Verfolgung durch
das ICC sind. In Artikel 7 gehören dazu systematischer Mord,
die Vernichtung von Zivilisten, Versklavung, Folter, Vergewaltigung,
erzwungene Schwangerschaft, politische Verfolgung und erzwungenes
Verschwinden.
3. RECHTSPRECHUNG
ZUM VERBRECHEN DES GENOZIDS
Im
Jahre 1998 votierten 120 Länder für die Annahme des Vertrags
zur Schaffung des ICC. Nachdem dessen Statut von 139 Staaten
unterzeichnet und von 76 ratifiziert worden war, entstand
der ICC formell am 1. Juli 2002 in Den Haag in den Niederlanden.
Es ist ein permanentes Gericht, das von den Vereinten Nationen
unabhängig ist und weltweit zuständig sein soll. In der Präambel
des Statuts stimmten die Staatsparteien dem Statut zu, nämlich:
bekräftigend, daß
die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft
als Ganzes berühren, nicht unbestraft bleiben dürfen und daß
ihre wirksame Verfolgung durch Maßnahmen auf einzelstaatlicher
Ebene und durch größere internationale Zusammenarbeit gewährleistet
werden muß,...
entschlossen,
der Straflosigkeit der Täter solcher Verbrecher ein Ende zu
setzen und so zur Prävention solcher Verbrechen beizutragen,...
im
Hinblick darauf,
daß es die Pflicht eines jeden Staates ist, seine Strafgerichtsbarkeit
über die für internationale Verbrechen Verantwortlichen auszuüben...”
entschlossen,
um dieser Ziele willen und für das Wohl gegenwärtiger und zukünftiger
Generationen einen unabhängigen permanenten Internationalen
Gerichtshof im Zusammenhang mit dem System der Vereinten Nationen
zu errichten, dem die Gerichtsbarkeit über die schwersten
Verbrechen in Bezug auf die internationale Gemeinschaft als
ganzes obliegt...“
Dies
zeigt ein klares internationales Bestreben, daß das Verbrechen
des Genozids nicht ungestraft bleiben darf, egal wo es passiert.
Wenn
im Jahre 2003 die Organisation des ICC abgeschlossen sein
wird, wird dieser achtzehn Richter und einen Ankläger umfassen,
welche von den Staatsparteien für das Statut ausgewählt werden.
Fälle können vor das Gericht durch Parteien, den Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen oder den Ankläger eingebracht werden.
Der Ankläger kann keine eigene Untersuchung ohne die Zustimmung
von zweien von drei Richtern des ICC-Gremiums vornehmen. Eine
solche Untersuchung kann sich auf Informationen aus jeder
zuverlässigen Quelle gründen, auch auf Individuen.
Der
ICC verfügt dann über eine automatische Gerichtsbarkeit über
die Staatsangehörigen von Staatsparteien und über die Staatsangehörigen,
die nicht zu den Statut-Parteien gehören, “wenn entweder der
Staat, auf dessen Territorium das Verbrechen begangen wurde,
oder der Staat, dessen Bürger der Angeklagte ist, zustimmen.”
Also können Bürger von Staaten, die nicht Statut-Parteien
sind und Genozid auf dem Territorium von Staaten begingen,
die ebenfalls nicht Statut-Parteien sind, ungestraft davonkommen.
Eine
andere Beschränkung der Gerichtsbarkeit ist, daß das Gerichtsverfahren
für Genozid durch einheimische Gerichte Priorität hat, wenn
es in gutem Glauben durchgeführt wird (das inländische Strafrecht
in über 70 Staaten sieht mit einigen definitorischen Variationen
Genozid als inländisches Verbrechen). Und die Verfolgung von
Genozid durch einheimische Gerichte wird häufiger. Auch wenn
daher die Reichweite des ICC groß ist, hat es immer noch eine
begrenzte Gerichtsbarkeit. Klare Fälle von Genozid können
unverhandelt und ungestraft bleiben, wie dies auch der Fall
war, als trotz der 1948er Genozid-Konvention Saddam Hussein
eine systematische Vernichtung der irakischen Kurden-Minderheit
im Jahre 1988 betrieb, wobei er Giftgas gegen sie einsetzte.
4. WAS
IST DER URSPRUNG DES BEGRIFFS “GENOZID”?
Während
Versuche, Gruppen zu vernichten, schon immer durchaus ein
Teil der Menschheitsgeschichte war, wurden solche Gruppen
normalerweise, wenn überhaupt, entweder identifiziert anhand
der Beschreibung einer Aktion (“Dschingis Khan machte sich
daran, die Tanguten in China 1226-1233 völlig zu vernichten”)
oder indem man die Tat einem generellen Konzept unterordnete,
wie etwa Massaker, Massenmord, Enthauptungen, Barbarei oder
Unmenschlichkeit. Selbst die Versuche der internationalen
Gemeinschaft, während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
ein humanitäres Recht zu entwickeln, fokussierten sich ganz
auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
in einem Krieg. Verschiedene Haager Verträge und die Genfer
Konvention zum Beispiel machten es zu einem internationalen
Verbrechen, Kriegsgefangene zu ermorden, wahllos Nicht-Kombattanten
zu töten oder ins Visier zu nehmen, unbewaffnete Passagierschiffe
zu versenken und dergleichen mehr. Darüber hinaus gab es Fälle,
in denen Staaten gegenüber Nationen Druck ausübten oder Militäraktionen
androhten, um Massaker unter ihren Landsleuten oder Religionsbrüdern
zu stoppen, etwa als die europäischen Großmächte im späten
19. Jahrhundert drohten, gegen das Osmanische Reich wegen
deren Massakern an Christen einzuschreiten.
Keiner
der Haager Verträge oder der Genfer Konventionen erwähnte
Genozid, noch wurden die Massaker, welche die Großmächte verhindern
wollten, Genozid genannt. Es gab dafür einen simplen Grund,
der von Winston Churchill, dem Premierminister Großbritanniens,
erkannt wurde. Während des Zweiten Weltkriegs, als das schreckliche
Ausmaß der nationalsozialistischen Ausrottung der Juden bekannt
wurde, stellte Churchill fest, daß dies “ein Verbrechen war,
das keinen Namen hatte”.
Der
Jurist Raphale Lemkin, ein polnischer Gelehrter für Internationales
Recht, prägte den rechtlichen Genozidbegriff im Jahre 1944.
Er floh 1939 vor der deutschen Besatzung in Polen nach Schweden,
und am Ende des Zweiten Weltkriegs ging er nach New York,
um bei den Vereinten Nationen für eine internationale Genozid-Konvention
zu werben. Danach lehrte er Recht an den Universitäten Duke
und Yale und wurde viermal für den Friedensnobelpreis nominiert.
Im
Jahre 1933 hielt Lemkin ein Referat auf einem internationalen
Treffen in Madrid, worin er sich auf die Vernichtung rassischer,
religiöser oder anderer sozialer Gruppen in der Geschichte
konzentrierte. Er rief zur Schaffung einer internationalen
Konvention auf, welche wie jene gegen Sklaverei und Piraterie
die Vernichtung von Gruppen zu einem internationalen Verbrechen
machen sollte, und nannte diese in Ermangelung eines besseren
Begriffs “Akte der Barbarei”.
Er
war mit diesem breiten Begriff nicht zufrieden, der nirgendwo
in nachfolgendes internationales Recht einging. Jahre später
dann stieß er auf Platons Gebrauch des griechischen Wortes
genos für “Rasse” oder “Stamm”. Ganz spontan kam Lemkin
auf die Idee, das lateinische –cide (-zid) anzufügen, was
soviel für “Mörder” oder “Akt des Tötens” auf lateinisch heißt,
wie etwa in Homizid oder Suizid.
Auf
dem Höhepunkt des Holocausts und mit dieser Idee im Hinterkopf,
schrieb Lemkin 1944 sein Buch über “Die Herrschaft der Achsenmächte
im besetzten Europa”, welches die erste öffentliche Nennung
dieses Konzepts enthielt. Im Buch schlug er eine internationale
Regulierung des Genozids vor, der “Praxis, Nationen und ethnische
Gruppen zu vernichten.”
Lemkin
spielte eine bedeutende Rolle in den Prozessen des Internationalen
Nürnberger Militärtribunals für die Nazi-Verbrechen. Er unterstützte
auch einen UN-Gesetzesentwurf während der Debatte über Genozid,
welcher mit der Resolution der Generalversammlung endete,
die besagte, daß “Genozid ein Verbrechen unter internationalem
Recht ist, welches die zivilisierte Welt verdammt, und für
welches die betreffenden Auftraggeber und Komplizen zu bestrafen
sind.”
5. GESCHICHTE
DES GENOZIDS
Die
erste rechtliche Anwendung des Begriffs Genozids erfolgte
in der Anklageschrift des Nürnberger Tribunals 1945-46 gegen
die Nazi-Kriegsverbrecher. Sie wurden angeklagt wegen “Kriegsverbrechen”
(Anklagepunkt drei). Dies beinhaltete den “vorsätzlichen und
systematischen Genozid, nämlich die Ausrottung rassischer
und nationaler Gruppen, gerichtet gegen die Zivilbevölkerung
bestimmter besetzter Gebiete, um Menschen bestimmter Rassen
oder Klassen und nationale, rassische oder religiöse Gruppen,
insbesondere Juden, Polen und Zigeuner, zu vernichten.” Gemäß
der vorgenannten UN-Resolution zum Genozid, wurde die Frage
der internationalen Genozidkonvention an den Wirtschafts-
und Sozialrat der UN verwiesen. Deren Debatte und Beratung
mündete in der Kommunikationsgruppe der Vereinten Nationen
(UNCG) im Jahre 1948, die 1951 in Kraft trat und seitdem von
133 Staaten ratifiziert wurde.
Die
Diskussion der UNO und die Genozid-Debatte und die abschließende
Betrachtung der Genozid-Definition fokussierte sich auf die
Schrecken des Holocausts und in der Prävention oder der Bestrafung
zukünftiger holocaust-ähnlicher Vorfälle. Aus diesem Grund,
erfüllt mit der Erinnerung an Leichenstapel, Gasöfen und hilflose
Männer, Frauen und Kinder in langen Reihen, die den Gasöfen
oder zu Maschinengewehrsalven zugeführt wurden, wurde Genozid
als eines der schlimmsten internationalen Verbrechen betrachtet.
Die
Definition der UNCG von Genozid ist die gleiche wie die der
ICC-Paragraphen (a) bis (e), obgleich die Klarstellungen und
Elemente, die der Definition vom PCICC hinzugefügt wurden,
sehr ausführlich klarstellten, was das Verbrechen in der Praxis
bedeutet. Wie erwähnt, ist es Genozid, selbst wenn der Akt
nur eine Person berührt, und Folter, Vergewaltigung und sexuelle
Gewalt sind ausdrücklich Genozid, wenn sie die Absicht beinhalten,
eine unabänderliche Gruppe als ganzes oder zum Teil zu zerstören.
Nur
Staaten können Parteien des UNCG sein, und ein Tribunal kann
Verfahren wegen des Genozid-Verbrechens in dem Staat abhalten,
in welchem der Genozid begangen wurde, „oder durch ein internationales
Tribunal, dem die Gerichtsbarkeit über Vertragsparteien obliegt,
welche diese Gerichtsbarkeit akzeptiert haben.“ Nur UNCG-Parteien
können Genozid-Fälle im UNCG einbringen. Wenn solche Fälle
den Staaten überlassen werden, spielen die internationale
und die inländische Politik eine primäre Rolle. Und aus diesem
Grund wurde kein Fall von Genozid bei der UNCG von einer Staatspartei
eingebracht, auch wenn es viele mögliche Fälle gab, wie etwa
Burundi (1972), das Kambodscha der Roten Khmer (1975-79),
Irak (seit 1983), Myanmar (seit 1962), Nigeria (1967-70),
Ruanda (1994), Serbien (in den 90ern), Sudan (ab 1956) und
viele andere. Zudem wurden viele Fälle von Genozid von Nicht-Parteien
oder von Parteien begangen, bevor sie das UNCG ratifizierten,
wie etwa Angola, China, Kongo (Kinshasa), Indonesien, Pakistan,
Paraguay und Sierra Leone.
Um
mit den offenkundigen Fällen von Genozid und Kriegsverbrechen
umzugehen, sind die Vereinten Nationen dazu übergegangen,
Ad-Hoc-Tribunale zu errichten. Bislang existieren lediglich
zwei, so das Internationale Straftribunal für Ruanda (ICTR)
für den ruandischen Genozid von 1994. Es war erfolgreich darin,
den Major Jean-Paul Akaysesu, den früheren Premierminister
Jean Kambanda sowie den Geschäftsmann und Militärführer Omar
Serushago des Genozids und anderer Verbrechen für schuldig
zu befinden. Kambanda wurde wegen Genozids und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen und zu einer
lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Darüber hinaus wurden
andere hohe Beamte verhaftet und vor Gericht gestellt, darunter
die früheren Minister für Erziehung, Gesundheit, Information,
Auswärtiges, Inneres, Handel und Industrie. Da es sich um
ein internes inländisches Geschehen handelte, also ein Verbrechen
gegen das eigene Volk in einem inländischen Konflikt, stellte
deren strafrechtliche Verfolgung einen wichtigen Präzedenzfall
für die Anwendung internationalen humanitären Rechts dar.
Zudem kooperierten viele Staaten mit dem ICTR, indem man Haftbefehlen
des ICTR nachkam, wodurch zusätzliche Präzedenzfälle geschaffen
wurden.
Das
andere Tribunal ist das Internationale Straftribunal für das
ehemalige Jugoslawien, das im Jahre 1993 wegen schwerer Verstöße
gegen das humanitäre Recht eingerichtet wurde. Genozid gehört
zu den Verbrechen, welche von dieser Behörde untersucht wird.
Sieben Personen sitzen nun Strafen ab, drei haben ihre Strafen
abgesessen und zehn sind vorläufig freigelassen worden. Im
Jahre 1999 stellte das Tribunal einen Haftbefehl gegen Slobodan
Milošević, den früheren Präsidenten Jugoslawiens, und
vier seiner Komplizen wegen Genozids und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit aus. Milošević steht nun vor dem Tribunal
vor Gericht.
Die
Vereinten Nationen unternahmen auch Versuche, ähnliche Tribunale
wegen der Genozide und anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit
der kambodschanischen Roten Khmer aufzustellen, wie auch neben
anderen Gruppen wegen Genozids und anderer Verbrechen gegen
die Menschlichkeit durch die Revolutionäre Vereinigte Front
in Sierra Leone sowie wegen des indonesischen Genozids im
früheren Ost-Timor (1975-98). Aus verschiedenen Gründen waren
diese Tribunale nicht oder nur zum Teil erfolgreich, wie etwa
im Falle des gemischt national-internationalen Sondergerichts
für Sierra Leone.
In
Zukunft werden die Aktivitäten dieser Tribunale womöglich
in das ICC integriert, oder aber dem ICC wird die exklusive
Gerichtsbarkeit übertragen. Tatsächlich ist das UNCG nun durch
das ICC-Statut ersetzt worden.
6. GENOZID
ALS SOZIOLOGISCHES KONZEPT
Abgesehen
davon, daß es ein Verbrechen darstellt, ist Genozid auch ein
Forschungsgebiet von Sozialwissenschaftlern und Gelehrten.
Sie stellen solche Fragen wie nach der Geschichte des Genozids,
seiner Dynamik und Phasen sowie seiner Bedingungen und Ursachen.
Wenn wir Genozid aus der Welt verbannen oder reduzieren wollen,
ist eine solche Forschung von wesentlicher Bedeutung. Es reicht
nicht aus, durch gesetzliche Bestrafung eine Abschreckung
erreichen zu wollen. Wir müssen auch verstehen, warum er geschieht.
Doch ist die gesetzliche Definition von Genozid beim UNCG
und ICC zu breit, indem es sehr verschiedene Verhaltensweisen
wie Mord, geistige Schädigung, Geburtenverhinderung, Entfernung
von Kindern von einer Gruppe usw. umfaßt.
Doch
ist auch die gesetzliche Definition in einem anderen Sinne
zu eng. Sie schließt nicht die Absicht mit ein, politische,
wirtschaftliche und andere nicht-unabänderliche Gruppen zu
vernichten. Viele staatliche Morde bezogen sich auf die Vernichtung
nicht-unabänderlicher Gruppen. Es handelte sich um offenkundigen
Mord, und die Absicht, den Mord zu begehen, ist der Handlung
selbst inhärent. Zum Beispiel ist es offensichtlich staatlicher
Mord, wenn Soldaten Zivilisten sich vor einer Mauer aufstellen
lassen und sie ohne faires Gerichtsverfahren erschießen. Auf
diese Weise geschahen Massenmorde an Geiseln durch die Nazis,
Mord an Kulaken während der Stalin’schen Zwangskollektivierungskampagne
in den 30er Jahren, die Ermordung von „Konterrevolutionären“
in den 50er und 60er Jahren unter Mao, das „erzwungene Verschwinden“
von Linken durch Todesschwadronen in Argentinien, Brasilien,
Kolumbien, El Salvador, Honduras und anderswo in den 70er
und 80er Jahren, sowie der Massenmord an früheren staatlichen
Militäroffizieren und Beamten durch die Roten Khmer in Kambodscha
zwischen 1975 und 1979.
Der
Fortschritt, was unsere Kenntnisse des Genozids angeht, hängt
fundamental von der Klarheit und Triftigkeit unserer Konzepte
ab. Besonders sollten diese Konzepte sich auf reales Weltgeschehen
beziehen, welches deutlich und einheitlich unabhängig von
den jeweiligen Beobachtern und deren Einstellungen identifiziert
werden kann. Denn wenn irgendein Gebiet der Sozialwissenschaften
mit Neigungen und Voreingenommenheiten aufgeladen ist, dann
hat dies sicherlich etwas mit dem Wer, Warum, Wann und Wie
staatlichen Mordens zu tun.
Aus
diesen Gründen haben Genozid-Wissenschaftler versucht, ihre
eigenen Genozid-Definitionen zu entwickeln, welche besser
dazu angetan sind, solches staatliches Morden zu verstehen.
Untenstehend sind vier Definitionen, die von Forschern vertreten
werden:
“Genozid ist eine Form einseitigen Massenmords,
wobei ein Staat oder eine andere Autorität beabsichtigt, eine
Gruppe zu vernichten, sofern diese Gruppe sowie die Zugehörigkeit
zu ihr durch den Täter definiert werden.” (Frank Chalk and Kurt Jonassohn)
“Genozid im allgemeinen
Sinne ist der Massenmord an einer beträchtlichen Anzahl von
Menschen, sofern dieser nicht im Laufe militärischer Aktionen
gegen einen erklärten Feind erfolgt, und die Bedingung gegeben
ist, daß die Opfer grundsätzlich verteidigungs- und hilflos
sind.“ (Israel W. Charny)
“Genozid
ist eine nachhaltige absichtsvolle Aktion durch einen Täter,
um ein Kollektiv direkt oder indirekt physisch zu zerstören,
durch die Unterbindung der biologischen und sozialen Reproduktion
der Gruppenmitglieder, gleichgültig ob das Opfer kapituliert
oder eine fehlende Bedrohung darstellt.“ (Helen Fein)
Das “Konzept
des Genozids ist nur dann gegeben, wenn eine in die Tat umgesetzte
Absicht vorliegt, die erfolgreich ausgeführt wird, um eine
gesamte Gruppe physisch zu zerstören (eine solche Gruppe wird
von den Tätern definiert).“ (Steven T. Katz)
Quer
durch die Rechtsliteratur und wissenschaftliche Literatur
wird Genozid explizit oder implizit auf drei verschiedene
Arten definiert:
a) Die
rechtliche Definition
Die
Definition des UBCG und des ICC, wie im Bericht der PCICC
und oben in den Absätzen (a) bis (e) klargestellt.
b) Die
landläufige Definition
Das absichtsvolle
Töten (Ermordung) von Menschen durch den Staat aufgrund ihrer
Gruppenidentität. Ungeachtet
der gesetzlichen Definition und zweifellos vom Holocaust beeinflußt,
tendiert der gewöhnliche Sprachgebrauch und auch der einiger
Forscher dazu, den Begriff völlig gleichzusetzen mit Mord
und ausschließlich Mord durch einen Staat an Menschen
aufgrund deren spezifischer oder wahrgenommener Gruppenzugehörigkeit,
was für einige Forscher auch politische und andere Gruppen
mit einschließt. Diese Betrachtungsweise des Genozids ist
im öffentlichen Bewußtsein so sehr verankert, daß es als äußerst
falsch erscheint, Genozid auch zu postulieren bei nicht-tödlichen
mentalen oder physischen Bedingungen, die einer Gruppe auferlegt
werden.
Es
ist anzumerken, daß bei dieser Definition die Vernichtung
einer Gruppe nicht absichtsvoll erfolgen muß. Juden massenweise
zu töten, weil sie Juden sind, Christen, weil sie Christen
sind, Chinesen, weil sie Chinesen sind, wäre nach dieser landläufigen
Definition Genozid. Darüber gibt es jedoch Verwirrung. Während
nämlich einige Forscher in ihrer expliziten Definition erwähnen,
daß die Vernichtung einer Gruppe absichtsvoll geschieht, führen
sie bei der Anwendung des Begriffs oft auch Genozidfälle auf,
bei denen die Absicht nicht explizit kundgetan wurde (wie
etwa die von Stalin verursachten Hungersnöte in der Ukraine
und die Deportation von Minderheitengruppen, der indonesische
Massenmord in Ost-Timor und die Killing Fields der Roten Khmer
in Kambodscha), wobei jedoch der Tatbestand der Ermordung
von Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit klar ist.
c) Allgemeine
Definition
Jedes
absichtsvolle Töten (Mord) von unbewaffneten und hilflosen
Menschen durch den Staat. In
manchem Sprachgebrauch und vor allem unter Forschern (siehe
die Definition von Charny oben) ist Genozid definiert worden,
um eine Lücke bei den gesetzlichen und landläufigen Definitionen
zu schließen. Die dahinterstehende Absicht ist, Massenmord
an Menschen abzudecken, die aus anderen Gründen als ihrer
Gruppenzugehörigkeit massenhaft getötet werden, wie etwa der
Massenmord an Kriegsgefangenen, politischen Kritikern und
Übertretern drakonischer Regeln, Mord infolge von Vergewaltigung
oder sexueller Versklavung, im Laufe einer ideologischen Säuberung
oder um einfach eine staatliche Todesquote zu erfüllen (wie
in der Sowjetunion unter Stalin in den 30er Jahren oder in
Nordvietnam in den 50ern). Keiner dieser Morde ist Genozid
gemäß der gesetzlichen und geläufigen Bedeutungen.
Das
Problem mit der verallgemeinerten Bedeutung von Genozid ist,
daß man eine neue Lücke öffnet, sobald man eine andere schließt.
Wenn sich nämlich Genozid auf jeglichen staatlichen Mord bezieht,
gibt es dann keinen Namen für den Mord an Menschen aufgrund
ihrer Gruppenzugehörigkeit oder die Absicht, eine Gruppe als
ganzes oder zum Teil zu vernichten? Genau wegen dieses konzeptuellen
Problems ist der neue Begriff Demozid (aus dem griechischen
demos für „Volk“) sinnvoll. Er bedeutet Mord durch
Staat oder herrschende Autoritäten und ersetzt die verallgemeinerte
Definition von Genozid, läßt somit das soziologische Konzept
des Genozids übrig, um sich spezifisch auf Mord an Menschen
aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit zu beziehen.
Einer
der großen Vorteile des internationalen und humanitären Rechts
des ICC-Statuts ist, daß er nun Mord und Vernichtung
explizit als internationale Verbrechen definiert, egal ob
in Kriegs- oder Friedenszeiten. Artikel 7.1 des Statuts beinhaltet
die absichtsvolle „Ermordung“ und „Vernichtung“ einer oder
mehr Personen als „’Verbrechen gegen die Menschlichkeit’,
wenn es Teil eines breiten oder systematischen Angriffs ist,
der gegen jedwede Zivilbevölkerung gerichtet ist, wobei dieser
Angriff wissentlich erfolgt.“ Von besonderer Bedeutung ist,
daß die „Vernichtung die absichtsvolle Auferlegung von Lebensbedingungen
ist, darunter die Verhinderung des Zugangs zu Nahrung und
Medizin, die darauf abzielt, die Vernichtung eines Teils der
Bevölkerung herbeizuführen.“ (Artikel 7.2 b)
Mord
und Vernichtung durch Staaten gehören zu der allgemeinen Definition
von Genozid und Demozid. Daher stieß das ICC-Statut auf breite
Kritik des UNCG, da es als zu eng angesehen wurde und auch
den Mord oder die Vernichtung von Menschen aus anderen Gründen
als den Versuch, unveränderliche Gruppen zu zerstören, hätte
beinhalten sollen, auch wenn kein Genozidverbrechen vorliegt.
In der Tat deckt das ICC nun fast alle Fälle von Demozid ab,
mit Ausnahme von Morden an politischen Oppositionellen oder
anderen Menschen (wie etwa störende Berichterstatter), welche
nicht Teil eines verbreiteten oder systematischen Angriffs
gegen die Bevölkerung sind.
7. GENOZID
IN DER GESCHICHTE
In
der Geschichte sind Hunderte Millionen von Menschen von ihren
Staaten oder Herrschern ermordet worden. Und das weil sie
gehaßt wurden, der falschen ethnischen Gruppe, Rasse, Religion
oder Nationalität angehörten, im Wege standen, als Bedrohung
oder Feinde angesehen wurden, aus einer Laune heraus oder
ohne jeglichen Grund. Eine konservative Schätzung kam auf
ungefähr 133 Millionen, eine Zahl, deren Größe nur durch die
geringe Weltbevölkerung limitiert wurde. Im Gegensatz dazu
mag die Zahl der Kriegstoten vor dem 20. Jahrhundert ungefähr
40 Millionen betragen haben; die Schwarze Pest während des
5. bis zum 20. Jahrhundert hat vielleicht 102 Millionen Menschen
das Leben gekostet.
Nur
ein paar Beispiele werden genügen. Als in China ein Herrscher
einem anderen nachfolgte und ein Krieg um die Herrschaft die
Bevölkerung vernichtete, wurden mehrere zehn Millionen Menschen
ermordet. Allein während des Taiping-Aufstands (1851-64),
wurden mehr als vierzig Millionen Menschen getötet, die große
Mehrheit davon wahrscheinlich ermordet. Die Mongolen, von
denen Dschingis Khan ein besonders ruchloser Mörder war, zerstörten
weite Teile von Persien, des Mittleren Ostens, Osteuropas,
Rußlands und China und ermordeten während des 14. und 15.
Jahrhunderts vielleicht 30 Millionen Menschen (etwa 13% der
Weltbevölkerung). Dann gab es natürlich die Sklaverei, die
für die Ermordung von etwa 17 Millionen afrikanischer Schwarzer
verantwortlich war, sowie den Mord an den Indianern der amerikanischen
Kontinente mit etwa weiteren 13 Millionen Toten. Dies sind
lediglich die bekanntesten Beispiele, doch es gab auch die
weniger tödlichen Morde, was die Anzahl der Opfer anging,
wie etwa der Mord an Christen durch die Römer, die christlichen
Kreuzzüge, die Menschenopfer der Azteken, die spanische Inquisition,
die Hexenverfolgungen, die häufigen antijüdischen Pogrome
in ganz Europa und so weiter.
Bis
zum 20. Jahrhundert hatte sich die menschliche Bevölkerung
vervielfacht. Zur Zeit der Mongolen betrug die Zahl der Weltbevölkerung
etwa 400 Millionen. Im Jahre 1900 waren es 1,2 Milliarden
Menschen, die sich bis Mitte 2001 auf 6,1 Milliarden vermehrten.
Dadurch daß es viel mehr Menschen zum Töten gab, töteten die
Staaten auch viel mehr Menschen. Allein im 20. Jahrhundert
überschritt die Bilanz die Anzahl aller zuvor Ermordeten,
nämlich unglaubliche 174 Millionen. Möglicherweise sogar ungefähr
340 Millionen. Um sich ein Bild davon zu machen, wäre dies
so, als ob die Welt einen katastrophalen Nuklearkrieg in Zeitlupe
erlitten hätte. Die konservative Zählung von 174 Millionen
Ermordeten ist vier mal höher als die Zahl der im Kampf in
allen Bürger- und zwischenstaatlichen Kriegen Getöteten des
Jahrhunderts, einschließlich des Ersten und Zweiten Weltkriegs.
Diese vielen Leichen würden Kopf an Zehenspitzen aneinandergereiht
die Erde ungefähr vier mal umrunden.
Der
schlimmste Mörderstaat war die Sowjetunion, wo Lenin, Stalin
und deren Nachfolger wahrscheinlich 62 Millionen ihrer Bürger
sowie Ausländer ermordeten. Seit 1923 ist die Kommunistische
Partei Chinas unter Mao Tse-Tung und dessen Nachfolgern für
39 Millionen ermordete Chinesen verantwortlich. Die Nazis
unter Hitler führten den Holocaust gegen die Juden durch,
der jedermann bekannt ist. Doch weniger bekannt sind die anderen
Nazi-Morde, die einschließlich der Juden eine Zahl von 21
Millionen ergeben. So gut wie unbekannt ist, daß die chinesische
Nationalistenregierung zur Zeit ihrer Herrschaft unter Chiang
Kai-Shek zwischen 1928 und 1949 ungefähr 10 Millionen Chinesen
ermordete. Es gab weniger mörderische Staaten, die eine Million
oder mehr Menschen töteten, aber unter 10 Millionen blieben.
Sie sollen hier nur aufgezählt werden, in Klammern die Jahreszahlen
und die ungefähre Zahl der Ermordeten in Millionen: Japan
(1937-45: 6), Kambodscha der Roten Khmer (1975-79: 2), Türkei
(1909-18: 1,9), Vietnam (1945-87: 1,7), Nordkorea (1948-2002:
über 2), und Jugoslawien unter Tito (1944-87: 1). Mehr als
hundert andere Staaten ermordeten ihren Anteil an den Zehn-
oder Hunderttausenden von weiteren Ermordeten in diesem Blutbad
des 20. Jahrhunderts. All dieses Töten wäre nun unter dem
ICC ein Verbrechen.
Bei
wievielen davon jedoch handelt es sich um das Verbrechen Genozid?
Jene Fälle, die am eindeutigsten solche Verbrechen darstellen
würden, sind natürlich der Holocaust, bei dem 5 bis 6 Millionen
Juden ermordet wurden. Beide UN-Tribunale, das für Ruanda
(insgesamt etwa 500.000 bis 750.000 Ermordete Tutsi im Jahre
1994) und das für Jugoslawien (etwa 25.000 bis 100.000 Ermordete
in Bosnien-Herzegowina) sind zum Schluß gekommen, daß Genozid
stattgefunden hatte und haben entsprechende Strafen verhängt.
Einige andere größere Fälle, auf die der Begriff Genozid ganz
oder zum Teil angewandt werden kann, sind der Massenmord 1909-23
an Armeniern, Griechen und anderen Christen durch türkische
Regime (ungefähr 2,1 Millionen Armenier und 347.000 Griechen),
der Mord der kambodschanischen Roten Khmer 1975-79 an buddhistischen
Mönchen, kambodschanischen Vietnamesen, Muslimen und anderen
Minderheiten (541.000), die deutsche Ermordung von Hereros,
Hottentotten und Berg-Damaras in Namibia (72.000), der Mord
an Hutus in Burundi 1967-87 (150.000), der kroatische Mord
während des Zweiten Weltkriegs an Serben und Juden (655.000),
der irakische Mord an Kurden und südlichen Schiiten 1966-88
(mehr als 100.000).
Wenn
wir die geläufige Definition von Genozid benutzen, dann gibt
es viel mehr Fälle, die zu den zur rechtlichen Definition
passenden hinzuzuzählen sind und die vielleicht ungefähr achtzig
Millionen durch Staaten Ermordete ergeben. Einige der größeren
Fälle wären dann die von Stalin erzwungene Hungersnot in der
Ukraine 1932-33, die ungefähr 5 Millionen Menschen tötete,
der Mord des kommunistischen China an 375.000 Tibetern, Muslimen
in Sinkiang und anderen Minderheiten, der Massenmord West-Pakistans
im Jahre 1971 an mehr als einer Million Bengalen und Hindus
in Ost-Pakistan (heute Bangladesch), der indonesische Massenmord
1965 an 509.000 Kommunisten und ethnischen Chinesen sowie
die Morde zwischen 1975 und 1998 an mehr als 150.000 Menschen
in Ost-Timor, der anhaltende Mord im Sudan seit 1955 an südlichen
Christen und Schwarzen, der insgesamt über 1 Million Menschenleben
kostete, sowie in der ganzen Welt der Massenmord an mehreren
zehn Millionen einheimischen Völkern und Eingeborenen in Kolonien.
8. GRÜNDE
UND BEDINGUNGEN FÜR GENOZID
Sozialwissenschaftler
und Gelehrte haben allgemein ihr Verständnis von Genozid in
Begriffe gefaßt, die sich beziehen auf die politische Struktur,
in welcher Genozid stattfindet, auf den Kontext, in welchem
er geschieht, auf die Motive der Täter, die Eigenschaften
der Opfer und auf die Phasen, in denen der Genozid vonstatten
geht.
a) Staatliche
Institutionen
Es
geht klar aus empirischen und historischen Forschungen hervor,
daß Demozid inklusive Genozid (wie auch immer er definiert
wird), Facetten totalitärer Systeme und in einem geringeren
Ausmaß autoritärer Systeme sind. Mit zunehmender demokratischer
Unfreiheit von Menschen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit
einer Art von inländischen Genozids oder Demozids, wie in
der totalitären Sowjetunion unter Stalin, Hitlers Deutschland
und Maos kommunistischem China, oder auch im faschistischen
China von Chiang Kai-Shek, in Francos Spanien und im Ungarn
unter Admiral Miklos Horthy, oder im Irak von Diktator Saddam
Hussein, im Uganda von Idi Amin und der Türkei unter Mustafa
Kemal Atatürk. Jene Staaten, die so gut wie keinen inländischen
Genozid oder andere staatlichen inländischen Morde oder Vernichtungskampagnen
betreiben, sind die modernen Demokratien, welche die bürgerlichen
Freiheiten und politischen Rechte anerkennen. Um vorherzusagen,
wo Genozid wahrscheinlich passiert, sollte man zuerst auf
die totalitären und danach auf die autoritären Staaten schauen.
b) Kontext
Wie
auch immer die politischen Institutionen eines Staates beschaffen
sind – die Wahrscheinlichkeit eines Genozids steigt scharf
an, wenn der Staat in einen internationalen oder inländischen
Krieg verwickelt ist. Der Holocaust ist ein eindeutiges Beispiel.
Es gab Massenmord an Juden vor 1939, doch nicht als staatliche
Politik, alle Juden zu ermorden, wo immer sie unter deutsche
Kontrolle gerieten. Eine solche Politik trat erst dann in
Erscheinung, als Deutschland sich im Zweiten Weltkrieg befand.
Ähnlich verhielt es sich mit dem Massenmord an den Armeniern
durch den Staat der Jungtürken. Während des Ersten Weltkriegs
lieferte die türkische Allianz mit Deutschland und die russische
Invasion der Osttürkei den Jungtürken die Gelegenheit, die
Türkei ein für alle mal von Armeniern und Christen zu säubern.
Ähnliches gilt für die Stalin’schen Deportationen von ethnischen
und nationalen Minderheiten, wie Deutschen, Griechen, Mescheten,
Tataren, Urkainern und anderen während des Zweiten Weltkriegs,
was den Tod von etwa 750.000 Menschen forderte. Vielleicht
eine Million oder mehr Menschen wurden während der Mexikanischen
Revolution von 1910-20 ermordet. Und weitere Beispiele von
Genozid, der während militärischer Eingriffe, Bürgerkriegen
oder Unabhängigkeitskriegen durchgeführt wurde, sind Angola,
Burma, Chile, beide Kongos, Kolumbien, El Salvador, Indonesien,
Iran, Irak, Libanon, Myanmar, Nigeria, Ruanda, Sudan, Syrien,
Jugoslawien (Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina) und
so viele andere. Krieg diente stets als Entschuldigung, Deckung
oder Anreiz für Genozid und Massenmord.
c) Motive
Es
gab umfangreiche Forschungen zur Frage, warum ein Täter eine
Gruppe vernichten, oder wenn nicht die Gruppe als solche,
dann doch Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit vernichten
wollen sollte. Motive sind oft komplex und verschlungen, doch
man kann aus so einer Mischung normalerweise ein Hauptmotiv
herausfiltern.
Ein
solches Motiv ist es, eine Gruppe zu vernichten, die als
Bedrohung für die herrschende Macht wahrgenommen wird.
Ein Beispiel dafür waren die Parlamentswahlen 1970 in Pakistan,
welche das politische Gewicht Ostpakistans offenlegten, was
die Kontrolle über Ostpakistan durch Westpakistan sowie die
Macht der Militärregierung bedrohte. Diese besetzte daraufhin
Ostpakistan militärisch und ermordete über eine Million bengalische
Führer, Intellektuelle, Berufstätige und jeden Hindu, dessen
das Militär habhaft werden konnte.
Ein
solcher Fall war auch der starke Widerstand der ukrainischen
Bauern gegen Stalins Kollektivierungsprogramm 1931-32, gepaart
mit der Bedrohung der kommunistischen Kontrolle durch den
ukrainischen Nationalismus. Was also im Jahre 1932 eine leichte
Hungersnot in der Region gewesen wäre, wurde von Stalin um
ein vielfaches vergrößert, indem er Nahrung und deren Quellen
beschlagnahmte (Viehbestände, Haustiere, Saatgut, Abschießen
von Vögeln in den Bäumen etc.) und indem er die Einfuhr von
Nahrung in die Ukraine boykottierte. Selbst Besucher der Ukraine
wurden durchsucht und ihnen Nahrung abgenommen, bevor sie
die Sowjetrepublik betraten. Ungefähr fünf Millionen Ukrainer
verhungerten.
Und
mit einem solchen Fall hatten wir es auch zu tun, als die
ruandische Hutu-Mehrheitsregierung es unternahm, alle Tutsi
in ihrer Reichweite zu einer Zeit zu ermorden, als es Unruhen
wegen eines größeren Einfalls der aus dem Ausland operierenden
Ruandischen Patriotischen Front der Tutsi im nördlichen Teil
des Landes gab.
Ein
zweites Motiv ist zutiefst emotionaler Natur und betrifft
die Vernichtung derer, die man haßt, verachtet oder umgekehrt
beneidet und gegen die man Ressentiments hat. Der Genozid
an Juden im Laufe der Geschichte und besonders der Holocaust
war grundsätzlich ein Akt religiösen und ethnischen Hasses,
gemischt mit Neid und Ressentiments wegen deren unverhältnismäßig
großen wirtschaftlichen und beruflichen Errungenschaften.
Ähnlich verhielt es sich mit dem Genozid an den Armeniern
1915-18 in der Türkei, wo Armenier einen weit überdurchschnittlichen
Wohlstand und beruflichen Status genossen, aber auch als Christen
in einer muslimischen Gesellschaft gehaßt wurden.
Ein
drittes Motiv für Genozid ist das Streben nach einer ideologischen
Transformation der Gesellschaft. So sind die Genozide und
Demozide zu verstehen, die zum Beispiel von kommunistischen
Gesellschaften durchgeführt wurden, wo die Widerständler als
Feinde der Ideologie betrachtet und ermordet wurden, wie etwa
Grundbesitzer, Kulaken, Nationalisten, „Rechtsabweichler“
und „Konterrevolutionäre“.
Ein
viertes Motiv ist Reinigung, oder der Versuch, aus der Gesellschaft
fremden Glauben, fremde Kultur und Praktiken und fremde ethnische
Gruppen zu eliminieren. „Ethnische Säuberung“, „Ungezieferbeseitigung“
oder „Prophylaxe“ sind Begriffe dafür. Beispiele sind der
systematische Versuch von Mao Tse-Tung und Stalin, Menschen
zu eliminieren, die nicht an deren kommunistische Gesellschaftsmodelle
glaubten; der Vorstoß im Mittelalter, das gleiche in Bezug
auf das Christentum zu tun; die Auslöschung christlicher Gruppen
und muslimischer „Gotteslästerer“ in vielen gegenwärtigen
islamischen Ländern wie im Iran und in Saudi-Arabien; die
ethnische Säuberung, welche die Serben in Bosnien-Herzegowina
in den 90er Jahren praktizierten; und der Krieg, den das Militär
in Myanmar (Burma) gegen die Karen und andere ethnische Gruppen
durchführt.
Und
ein fünftes Motiv ist der wirtschaftliche Gewinn. Raffgierige
Kolonialmächte oder Individuen (wie der belgische König Leopold,
der den Kongo-Freistaat persönlich besaß), ermordeten massenweise
mehrere zehn Millionen Menschen in ihren Kolonien, die im
Wege standen, sich dem Raubbau am Reichtum der Kolonie widersetzten,
oder die man zu Tode arbeiten ließ; und gleiches gilt für
den Massenmord an Indianern in der Neuen Welt, der bis heute
andauert. Und viele Millionen wurden auch ermordet, während
sie gefangengenommen, transportiert und in Sklaverei gehalten
wurden.
d)
Phasen
Dann
gibt es die Phasen, in denen die Gründe und Bedingungen für
Genozid sich entwickeln und dann allmählich in offenem Genozid
enden, wie dies Gregory H. Stanton beschrieb. Wenn es sich
um einen autoritären oder totalitären Staat handelt, gibt
es folgende Phasen:
1.
Klassifizierung: Menschen werden typologisiert, kategorisiert
und in verschiedene Gruppen klassifiziert, wie etwa Weiße,
Schwarze, Asiaten oder auch Christen und Juden oder auch Kommunisten,
Linke oder Rechte.
2.
Symbolisierung: Verschiedene Gruppen werden mit Namen
versehen, wie Chinesen, Juden, Hindus oder Marxisten. Besondere
Kleidung (wie etwa ein Turban), Nahrung (wie Reis), physische
Besonderheiten (wie lange Nasen) oder Verhalten (wie “undurchschaubar”)
werden dazu verwendet, Gruppenmitglieder zu stereotypisieren.
Klassifikation und Symbolisierung sind allen Gesellschaften
gemein, und auch wenn sie notwendige Voraussetzungen für Genozid
sind, sagen sie nicht voraus, daß er passieren wird oder daß
die folgenden Phasen eintreten.
3.
Entmenschlichung. Die Mitglieder der außenstehenden Gruppen
werden entmenschlicht, indem man sie Affen, Kakerlaken, Parasiten,
Ratten, Abschaum und dergleichen nennt. Auf diese Weise bewirkt
man, daß die Mitglieder der außenstehenden Gruppe klar als
außerhalb “unseres” moralischen Universums stehend erscheinen.
Als Abschaum und dergleichen fallen die Mitglieder der außenstehenden
Gruppen aus dem moralischen gruppeninternen Schutz gegen Vernichtung
heraus.
4.
Organisation. Beamte, sympathische Führer der Ingroup
und Intellektuelle organisieren die Unterdrückung und Ermordung
der Mitglieder der Outgroup oder der gesamten entmenschlichten
Gruppe. Es werden Waffen zum Austeilen gelagert; Milizen,
Sicherheitskräfte oder Militär werden ausgewählt und trainiert;
vorläufige Pläne werden geschmiedet.
5.
Polarisierung: Beamte, Extremisten, Propagandisten
oder Demagogen unternehmen eine systematische Kampagne, um
die soziale, psychologische und moralische Distanz zwischen
“uns” und “ihnen” zu maximieren. In dieser Phase werden moderate
Intellektuelle und Führer entweder durch Einschüchterung,
Schläge, Verhaftung oder direkte Ermordung mundtot gemacht.
6.
Vorbereitung: Alles ist bereit für den Genozid, und der letzte
Schritt ist die Identifizierung der zu Tötenden. Sie können
gezwungen werden, sie identifizierende Kleidung oder Symbole
auf ihrer Kleidung zu tragen, oder sie werden in Ghettos abgesondert.
Listen mit den zu tötenden können für Todesschwadronen vorbereitet
werden, und die Outgroup kann systematisch ihrer Rechte beraubt
werden und es werden ihnen in Razzien ihre Waffen abgenommen.
Jene, die den Widerstand gegen den Genozid anführen könnten,
wie junge Männer, können zum Militär eingezogen werden und
für die nachfolgende Hinrichtung segregiert oder einfach inhaftiert
werden.
7.
Genozid: Aus irgendeinem Anlaß wird die endgültige
Entscheidung getroffen, die Menschen in der Outgroup anzugreifen
und zu zerstören, oder die Gruppe als solche zu vernichten.
Dies mag als gerechte Kampagne zur Vernichtung von Abschaum
oder zur Säuberung der Gesellschaft von Schmutz gerechtfertigt
werden, oder als Wiederherstellung alter Größe oder als Rettung
der Rasse der Nation, als Rache für vergangenes Unrecht usw.
8.
Leugnung. Die letzte Phase ist die Leugnung des Genozids durch
die Täter. Sie vernichten oder verbergen die relevanten offiziellen
Beweise, verbrennen Körper, hinterlassen unmarkierte Gräber
oder erfinden einen plausiblen Grund für das Töten (“sie befanden
sich in einem Aufstand”, “sie wurden während des Bürgerkriegs
getötet”, oder “sie waren Gehilfen unserer Feinde”). Zudem
können die Täter diejenigen drangsalieren, die behaupten,
daß ein Genozid stattgefunden habe. Die kohärenteste und weitreichendste
offizielle Leugnung heute ist die des türkischen Staats, daß
der Mord an über einer Million Armeniern während des Ersten
Weltkriegs Genozid gewesen sei. Laut türkischer Darstellung,
starben sie als Folge eines Bürgerkriegs, einer Invasion durch
Rußland, und des Versuchs des Jungtürkenstaats, potentielle
und aktuell feindliche Armenier zu ihrem eigenen Schutze in
einen anderen Teil des Landes zu deportieren.
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Erscheint bald in der Enciclopedia Italiana